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1991 Atlantik Transfer (SM)

1991 Atlantik Transfer (SM)

Titel: 1991 Atlantik Transfer (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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den Kasten, der so groß ist wie ein Gartenhaus, und hieven ihn an Bord. Und wissen Sie, wie der Preis für diese Arbeit berechnet wird? Nicht nach Stunden, nicht nach Tonnen, sondern nach moves, nach Bewegungen! Der move, also eine Kranbewegung, ob nun von der Pier aufs Schiff oder umgekehrt oder auch an Land von Platz zu Platz, ist die Maßeinheit und kostet zum Beispiel in Deutschland hundertfünfundsechzig Mark, in Holland ungefähr hundert und in den südamerikanischen Häfen zwischen vier- und fünfhundert Mark.«
»Warum denn ausgerechnet in den ärmsten Ländern so viel?«
»Da werden die Preise von den Gewerkschaften hochgetrieben. Aber ist das nicht eine groteske Bemessung? Es ist, als würde man einen Maler nach der Anzahl seiner Pinselstriche bezahlen oder einen Berufsboxer nach seinen Schlägen. Oder stellen Sie sich mal vor, man würde eine Hure nach der Anzahl der stattfindenden moves bezahlen! Da ginge doch der ganze Reiz flöten. Und wer übernimmt das Zählen? Er? Sie?«
»Entsetzlich!« sagte Leuffen.
»Nicht wahr? Also: Romantik ist nicht mehr, nirgends, und schon gar nicht in der Seefahrt.«
Sie aßen beide mit nur mäßigem Appetit. Es gab Spiegeleier, Lachs, Aufschnitt, Käse, Toast, Konfitüre und Kaffee. Weil Geschirr nur für einen da war, trank Nielson aus einem Glas, und er benutzte sein privates Besteck. Teller waren genügend vorhanden durch die reichlichen Beilagen.
»Ich brauche dringend neue Lektüre«, sagte Leuffen. »Den Packen Zeitungen, den Sie mir gegeben haben, hab’ ich von A bis Z durchgelesen.«
»Unsere Bordbücherei besteht fast nur aus englischen und spanischen Krimis.«
»Dann geben Sie mir bitte ein paar englische! Oder haben Sie vielleicht ein spanisches Lehrbuch für mich?«
Also wird er wohl in Mittel- oder Südamerika bleiben, dachte Nielson, aber er sprach seinen Gedanken nicht aus. »Ich hab’ ein Wörterbuch, den SLABY-GROSSMANN. Zwei Bände. Die kann ich Ihnen geben. Der spanische Band hat auch eine gute Einführung in die Grammatik.«
»Sehr schön!« Leuffen lehnte sich zurück. »Ich hab’ keinen rechten Appetit. Mir fehlt wohl die frische Luft.«
»Sie dürfen sich hier gern mal nachts ans geöffnete Bulleye setzen. Bei Tage geht das nicht, weil immer jemand reinkommen kann, und noch öfter als zu den drei Mahlzeiten sollte ich mich nicht einschließen.«
»Ist klar. Aber nachts mal ’ne Stunde, das wär schon was!«
Sie rauchten noch eine Zigarette, und dann verschwand Leuffen, unterm Arm die beiden dicken SLABYGROSSMANN-Bände, in seiner bodega. Nielson schloß die schmale Tür und brachte die Zierleisten wieder in ihre normale Position.
Anschließend ging er nach oben, kontrollierte die Brücke, telefonierte mit dem Wachhabenden in der Maschine und sorgte dafür, daß er selbst frische Luft bekam. Er wanderte hin und her auf der BackbordbrückenNock, sah aufs Wasser und dachte nach über den Frevel, den er beging, indem er einen von der Polizei Gesuchten gegen hohes Entgelt außer Landes brachte.
Schiffe, dachte er, haben zu allen Zeiten als letzte rettende Zuflucht gedient. Die CAP ANAMOUR kam ihm in den Sinn, deren Besatzung Flüchtlinge an Bord nahm, die niemand haben wollte und die mit ihren seeuntüchtigen Booten auf der Reise in den Tod waren. Aber natürlich konnte man diese Aktion mit der seinen nicht vergleichen; die eine war ein humanitäres Programm, die andere ein dunkles Geschäft. Er dachte auch an den letzten großen Krieg in Europa, zu dessen Beginn wie zu dessen Ende Schiffe zu Schicksalen wurden für Menschen, die sich retten wollten. Obwohl er 1939 noch ein Kind gewesen war, sah er sie vor sich, die deutschen Emigranten, die über Frankreich nach Spanien und Portugal geflüchtet waren und in den iberischen Häfen ein Schiff zu erreichen hofften, das sie nach Amerika bringen sollte. Und er sah die Abertausende, die sechs Jahre später von Danzig, Gotenhafen, Königsberg und Memel aus vor den Russen zu fliehen versuchten und für die es nur einen Wunsch gab: ein Schiff besteigen zu dürfen, das nach Westen fuhr.
Und schließlich erinnerte er sich eines persönlichen Erlebnisses aus jener Zeit. Er war siebzehn, von der Schulbank weg in den Krieg geholt und als Soldat auf der Insel Rügen eingesetzt.
Dann kamen die Russen, und viele der Wehrmachtsangehörigen, die sich noch auf der Insel befanden, versuchten, den einzigen größeren Hafen zu erreichen, nämlich Saßnitz, um von dort aus mit einem Schiff nach Westen zu gelangen. Zwei
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