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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
Autoren: George Orwell
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gehaßt und verachtet wurde, wenn auch tagtäglich und tausendmal am Tag auf Rednertribünen, durch den Televisor, in Zeitungen, in Büchern seine Theorien verdammt, zerpflückt, lächerlich gemacht, der Allgemeinheit als der jammervolle Unsinn, der sie waren, vor Augen gehalten wurde – daß trotz alledem dieser Einfluß nie abzunehmen schien. Immer wieder warteten neue Opfer darauf, von ihm verführt zu werden. Nie verging ein Tag, an dem nicht nach seinen Weisungen tätige Spione und Saboteure von der Gedankenpolizei entlarvt wurden. Er war der Befehlshaber einer großen Schatten-Armee, eines Untergrund-Verschwörernetzes, das sich den Sturz der Regierung zum Ziel setzte. Der Name der Organisation sei »Die Brüderschaft« , so hieß es. Auch flüsterte man von einem schrecklichen Buch, einer Zusammenfassung aller Irrlehren, dessen Verfasser Goldstein war und das heimlich da und dort zirkulierte. Es war ein Buch ohne Titel. Die Leute sprachen davon, wenn überhaupt, einfach als von »dem Buch« . Aber man wußte von derlei Dingen nur durch vage Gerüchte. Weder »Die Brüderschaft« noch »das Buch« wurde, wenn es sich vermeiden ließ, von einem gewöhnlichen Parteimitglied erwähnt.
    In der zweiten Minute steigerte sich die Haßovation zur Raserei. Die Menschen sprangen von ihren Sitzen auf und schrien mit vollem Stimmaufwand, um die zum Wahnsinn treibende Blökstimme, die aus dem Televisor kam, zu übertönen. Die kleine aschblonde Frau war im Gesicht rot angelaufen, und ihr Mund öffnete und schloß sich wie bei einem an Land geworfenen Fisch. Sogar O'Briens großes Gesicht war gerötet.
    Er saß sehr gerade aufgerichtet auf seinem Stuhl, seine mächtige Brust hob und senkte sich, als stemme er sich dem Anprall einer Woge entgegen. Das dunkelhaarige Mädchen hinter Winston hatte angefangen »Schwein! Schwein! Schwein!« hinauszuschreien und ergriff plötzlich ein schweres Wörterbuch der Neusprache und schleuderte es gegen den Sehschirm. Es traf Goldsteins Nase und prallte von ihm ab; die Stimme redete unerbittlich weiter. In einem lichten Augenblick ertappte sich Winston, wie er mit den anderen schrie und trampelte. Das Schreckliche an der Zwei-Minuten-Haß-Sendung   war nicht, daß man gezwungen wurde mitzumachen, sondern im Gegenteil, daß es unmöglich war, sich ihrer Wirkung zu entziehen. Eine schreckliche Ekstase der Angst und der Rachsucht, das Verlangen zu töten, zu foltern, Gesichter mit einem Vorschlaghammer zu zertrümmern, schien die ganze Versammlung wie ein elektrischer Strom zu durchfluten, so daß man gegen seinen Willen in einen Grimassen schneidenden, schreienden Verrückten verwandelt wurde. Und doch war der Zorn, den man empfand, eine abstrakte, ziellose Regung, die wie der Schein einer Blendlaterne von einem Gegenstand auf den anderen gerichtet werden konnte. So war für einen Augenblick der Haß Winstons durchaus nicht gegen Goldstein gerichtet, sondern im Gegenteil gegen den Großen Bruder, gegen die Partei und die Gedankenpolizei. Und in solchen Augenblicken schwoll sein Herz über für den einsamen, verachteten Abtrünnigen auf dem Sehschirm, diesen einzigen Verfechter von Wahrheit und Vernunft in einer Welt der Lügen. Und doch fühlte er sich im nächsten Augenblick wieder eins mit den ihn umgebenden Menschen, und alle Behauptungen über Goldstein schienen ihm wahr. In solchen Augenblicken verwandelte sich seine geheime Abneigung gegen den Großen Bruder in Verehrung, und der Große Bruder schien dazustehen als ein unbesieglicher, furchtloser Beschützer, der sich wie ein Felsen gegen die anbrandenden asiatischen Horden stemmte, während Goldstein ihm trotz seiner Vereinsamung, seiner Hilflosigkeit und der Zweifel, die sich allein schon an sein tatsächliches Vorhandensein knüpften, wie ein unheilvoller Betörer vorkam, der es lediglich durch die Macht seiner Stimme fertig brachte, die Fundamente der Zivilisation zu zerstören.
    In manchen Augenblicken war es sogar möglich, seinen Haß durch einen Willensakt da oder dorthin zu lenken. So gelang es Winston plötzlich, durch eine heftige Anstrengung, ähnlich der, mit der man in einem Alptraum seinen Kopf vom Kissen losreißt, seinen Haß von dem Gesicht auf dem Sehschirm auf das hinter ihm sitzende dunkelhaarige Mädchen zu übertragen. Lebhafte, berückende Vorstellungen huschten ihm durch den Sinn. Er würde sie mit einem Gummiknüppel zu Tode prügeln, sie nackt an einen Pfahl binden und sie mit Pfeilen durchlöchern, gleich
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