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19 Minuten

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Titel: 19 Minuten
Autoren: Jodi Picoult
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stellen Sie sich hinter Janine«, sagte Lacy zu ihm, »und stützen Sie ihr den Rücken. Janine, Sie schauen mich jetzt an und pressen noch einmal mit aller Kraft...«
    Die Frau biss die Zähne zusammen und tat wie geheißen, verausgabte sich bis zur Selbstaufgabe, um einen neuen Menschen hervorzubringen. Lacy tastete nach dem Kopf des Kindes, ohne dabei jedoch den Blickkontakt mit ihrer Patientin zu verlieren. »Die nächsten zwanzig Sekunden wird Ihr Baby der neueste Mensch auf diesem Planeten sein«, sagte Lacy. »Möchten Sie es endlich kennenlernen?«
    Die Antwort war ein mächtiges Pressen. Höchste Willenskraft, ein Aufschrei, ein glitschiger, lila Körper, den Lacy der Mutter rasch in die Arme legte, damit das Neugeborene, wenn es den ersten Schrei seines Lebens tat, gleich getröstet werden konnte.
    Die junge Mutter fing wieder an zu weinen - Tränen hatten eine ganz andere Melodie, wenn kein Schmerz mitschwang. Die frischgebackenen Eltern beugten sich über ihr Baby, ein in sich geschlossener Kreis. Lacy trat zurück und schaute zu. Auf sie als Hebamme wartete gleich nach einer Geburt reichlich Arbeit, aber im Augenblick wollte sie nichts anderes als das kleine Wesen zu betrachten. Denn Lacy sah einen Blick, in dem Weisheit und Frieden lagen - acht Pfund unverstellter Möglichkeiten. Neugeborene erinnerten sie an winzige Buddhas, Gesichter voller Göttlichkeit. Dieser Zustand war aber nur von kurzer Dauer. Wenn Lacy die Babys eine Woche später zur Kontrolluntersuchung wiedersah, hatten sie sich bereits in normale - wenn auch winzige - Menschen verwandelt. Das Heilige war verschwunden, und Lacy fragte sich jedes Mal, wohin.
    Während seine Mutter auf der anderen Seite der Stadt den neuesten Bürger von Sterling, New Hampshire, auf die Welt holte, wurde Peter Houghton gerade geweckt: Sein Vater klopfte an die Tür, ehe er zur Arbeit fuhr. Wie jeden Morgen. Unten würde eine Schüssel und die Packung Frühstücksflocken auf ihn warten -daran dachte seine Mutter selbst dann, wenn sie morgens um zwei zu einer Geburt gerufen wurde. Sie würde ihm auch einen Zettel hingelegt haben, auf dem sie ihm einen guten Schultag wünschte. Als wenn das so einfach wäre.
    Peter stand auf. Er tappte in seiner Pyjamahose zum Schreibtisch, setzte sich vor den PC und ging ins Internet.
    Die Wörter auf dem Message Board waren verschwommen. Er griff nach seiner Brille, die immer neben dem PC lag. Als er sie aufgesetzt hatte, fiel ihm das Etui auf die Tastatur - und plötzlich erschien er wieder, dieser Text, den er nie mehr hatte sehen wollen.
    Peter drückte CONTROL + ALT + DELETE, aber er sah ihn noch immer vor seinem geistigen Auge, auch nachdem der Bildschirm endlich leer geworden war, auch nachdem er die Augen geschlossen hatte. Nachdem er schon angefangen hatte zu weinen.
    In der Cafeteria-Schlange stand Josie hinter Natalie Zlenko, einer bekennenden Lesbe, die wenig Kontakt zu den anderen Schülern und Schülerinnen pflegte.
    Neben Josie stand Courtney Ignatio, das Alphaweibchen an der Sterling High. Mit ihrem honigblonden Haar, das ihr wie ein Seidentuch über die Schultern hing, und ihren mega-hippen Out-fits hatte sie eine ganze Entourage von Klonen hervorgebracht. Auf Courtneys Tablett befanden sich eine Flasche Wasser und eine Banane. Auf Josies stand ein Teller Pommes. Inzwischen war sie ausgehungert.
    »He«, sagte Courtney so laut, dass Natalie es mitbekommen musste. »Sagst du der Vagitarierin mal, sie soll uns vorbeilassen?«
    Natalie errötete, und sie drückte sich gegen das Geländer der Salatbar, damit Courtney und Josie vorbeikonnten. Sie bezahlten ihr Essen und suchten sich einen Tisch.
    In der Cafeteria kam Josie sich manchmal vor wie eine Naturforscherin, die verschiedene Spezies in ihrem natürlichen Lebensraum beobachtete. Da saßen die Streber, blätterten in Schulbüchern und lachten über Mathewitze, die außer ihnen keiner auch nur verstehen wollte. Dahinter kamen die Kunstfreaks, die heimlich Nelkenzigaretten rauchten und auf den Rand ihrer Schulhefte Mangas zeichneten. Nicht weit von den Besteckkästen hockten die Tüftler, die schwarzen Kaffee tranken und auf den Bus warteten, mit dem sie nach dem Nachmittagsunterricht zur Technical High drei Orte weiter fuhren; und schließlich die Drogies, die morgens um neun schon zugedröhnt waren. Dann waren da noch ein paar Außenseiter - Leute wie Natalie und Angela Phlug, die notgedrungen flüchtig miteinander befreundet waren, weil sonst niemand sie
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