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1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist

1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist

Titel: 1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
Autoren: Mary Gentle
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einstudiert hat?«
    Ich hatte nicht die Absicht gehabt, meine Wut so unprofessionell zur Schau zu stellen. Kurz kaute ich auf meiner Unterlippe.
    Caterina hob die Schultern auf sehr italienische Art. »Der Londoner Meister hatte seit Brunos Verbrennung zehn Jahre Zeit für seine Berechnungen. Er wollte sich nicht einmal mit Gleichungen des ersten Ranges zufrieden geben. Ostrega! Alldie Wiederholungen, die er hat durchspielen müssen. All seine Fallen werden sorgfältigst geplant sein, damit die Ereignisse den Verlauf nehmen, den er sich wünscht.«
    Die Wassertiefe nahm nach und nach wieder ab, und ich bemerkte, dass das Seil immer straffer wurde. Vermutlich war es hier irgendwo an einem Fels unter Wasser verankert. Ich ließ es durch meine Finger gleiten und folgte der alten Frau das ansteigende Ufer hinauf. Triefend verließ sie das Wasser. Ich richtete mein Wehrgehänge, das sich im Wasser ein wenig verschoben hatte. Jeder Stoß, jede Parade, bekannt …
    Die Laterne erhellte eine weitere Höhle. Ich folgte Caterina an glatten Stalagmiten vorbei. Sie deutete nach vorn. Mir fiel auf, dass der Hang steiler geworden war – dass wir inzwischen kletterten. Ich hielt die Laterne nach unten. Die ›Stufen‹ waren aus dem Kalkstein gewaschen, von menschlicher Bearbeitung keine Spur.
    Ich nahm an, dass es nur meinen Ruf als Fludds Kundschafter bestätigt hätte, sollte Madame Lanier mich aus der Rückseite der Wookey-Höhle kommen sehen. Dennoch hätte ich es vorgezogen, unbeobachtet zu bleiben. Wenn ich schon Minister Cecils Befehle befolgen und diese Verschwörung weitertreiben musste, dann wollte ich wenigstens ein As im Ärmel haben.
    Vor uns sah ich natürliches Licht; der Nachmittag war noch nicht vorüber. Der Schutt auf dem kurzen, steilen Hang knirschte unter meinen Stiefeln. Die alte Italienerin krabbelte mit unerwarteter Geschwindigkeit vor mir hinauf, und ich trat hinter ihr in die frische Luft des englischen Frühlings hinaus.
    Rechts vor mir erstreckte sich ein Wald. Ich blickte nach links und sah staubige Hecken und Getreidefelder, die sich einen Hügel hinunter bis ins offene Land erstreckten: die Terrassen von Somerset. Das ist dann wohl Süden.
    Glücklicherweise waren nirgends Bauern zu sehen. Der englische Bauer war deutlich gewalttätiger und undisziplinierter als der französische und ließ sich vom Rang eines Mannes nur wenig bis gar nicht beeindrucken. Die alte Frau ging ein paar Schritt in den Wald zu unserer Rechten und setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm unter den Birken. Sie atmete schwer und wrang Wasser aus ihren Röcken.
    Ich ging weiter und verließ mich auf die warme Luft, um meine Stiefel und die Hose zu trocknen, während ich nach Wildpfaden suchte. Nach nur wenigen Augenblicken kämpfte ich mich durch ein Gebüsch und fand mich am Rand eines Steilhanges wieder, der in ein tiefes Tal abfiel, auf dessen Grund ein offenbar nicht mehr benutzter Weg verlief.
    Bei meiner Rückkehr war die Italienerin immer noch da. Im Sonnenlicht wirkte sie noch schmutziger und rundlicher. Ihr Lächeln war hässlich und schön zugleich. Ich konnte sie mir durchaus als Äbtissin vorstellen – oder mehr noch als eine ältere Nonne, die der Fluch der Äbtissin war.
    »Signora«, sagte ich. Der Geruch von Laub, nassem Stiefelleder und (aus größerer Ferne) von Schweinen sowie das Knirschen des Kies' unter meinen Füßen, das alles besaß plötzlich eine nahezu greifbare Qualität für mich. Ich erkannte, dass ich versuchte, den Lauf der Zeit wahrzunehmen. Denn das ist der Punkt, an dem ich eine Entscheidung treffen muss … Gütiger Gott, jetzt haben sie mich schon so weit gebracht, so zu denken!
    Suor Caterina klopfte neben sich auf den Stamm. Ich setzte mich neben sie. Sie deutete auf den Höhleneingang, der hinter einem Gebüsch verborgen lag.
    »Wir haben uns darüber zerstritten, was wir mit diesem Wissen anfangen sollten.«
    Ich vermutete, dass sie an ihre Stapel feuchten Papiers dachte.
    »Roberto und ich stimmen darin überein, dass dieses Jahr, genau dieses Jahr, dasjenige ist, in dem alles am Scheidepunkt steht; dass die Ereignisse der nächsten fünfhundert Jahre durch das bestimmt werden, was wir jetzt tun.«
    »Aber sicher doch«, erwiderte ich trocken. »Bis jetzt war das in der Tat kein uninteressantes Jahr.«
    Der Wind wehte durch die Baumwipfel, und irgendwo sang eine Lerche. Ich habe einen solch bukolischen Frieden nie dem Hofleben vorgezogen. Ihrer Erziehung nach zu urteilen,
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