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1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist

1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist

Titel: 1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
Autoren: Mary Gentle
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den beiden Zimmern um. Ich konnte nicht gehen, ohne einen letzten Blick zurückzuwerfen. Das hatte ich mir zum Prinzip gemacht.
    Als ich schließlich damit fertig war, waren Gabriels Flehen und wütende Schreie verklungen. Er hatte sogar einen Stein gegen die Fensterläden geworfen. Um sicherzugehen, zählte ich dennoch bis fünfhundert, den Blick stur auf die Eichentür gerichtet. Ich dachte darüber nach, wie es wohl auf der anderen Seite aussehen musste. Bis jetzt war diese Tür nur eine Barriere zwischen meinem Heim und der Straße gewesen – etwas, wo Gabriel ohne Probleme hatte hindurchgehen können. Jetzt war es eine verschlossene Tür, eine Tür, durch die zu gehen er kein Recht mehr hatte, genauso wenig wie jeder andere Besucher. Gabriel war aus dem ihm vertrauten Leben ausgesperrt worden.
    Sollte es ihn ruhig wütend machen. Besser noch: Sollte er mein merkwürdiges Benehmen die letzten vierundzwanzig Stunden über irgendjemandem melden. Auf diese Art würde nur ich für das verantwortlich sein, was ich heute zu tun gedachte.
    Entschlossenen Schrittes trat ich auf die beobachtete Straße hinaus.

Rochefort: Memoiren
Zwei
    »Da ist der König.« Ich deutete nicht in seine Richtung. Solche Gesten fielen sogar auf den überfüllten Straßen von Paris auf.
    François Ravaillac neben mir folgte meinem Blick. »Ja, Messire Belliard. Ich sehe ihn. Da ist seine Kutsche. Der König.«
    Ich hatte zwei Männer, aus denen ich wählen konnte: Der eine war ein Soldat, der in Venedig gedient und mit dem Heer des Heiligen Römischen Kaisers gegen die Türken und Berber in Nordafrika gekämpft hatte; der andere war der katholische Schulmeister vom Land, der nun neben mir stand. Sicher, der Soldat mit Namen Pierre de la Jardin, Sieur de la Garde, wäre für diese Aufgabe geeigneter gewesen – was er auch schon wiederholt und mit Leidenschaft unter Beweis gestellt hatte.
    Aber im Gegensatz zu Monsieur Ravaillac hier hätte er wahrscheinlich Erfolg gehabt, dachte ich und blickte auf den Mann an meiner Seite. Und Erfolg war das Letzte, was ich wollte.
    Natürlich hätte ich einen Mann vorgezogen, der ein wenig mehr dem Archetypus eines Pädagogen entsprochen hätte. Ravaillacs rotes Haar fiel ihm zottelig bis über die Schultern, und er besaß die Hände eines Baumeisters, nicht die eines Mannes, der den Umgang mit Wachstafel und Stift gewöhnt war. Ein Trost war nur, dass jeder, der die Szene später bezeugte, sich vermutlich lediglich an einen breitschultrigen Mann mit Judashaaren erinnern würde und nicht an den Agenten des Duc de Sully, so groß und dunkelhäutig ich auch sein mochte.
    »Schulmeister.« Ich berührte ihn an der Schulter. »Hört Ihr mir eigentlich zu, oder lauscht Ihr wieder Gottes Wort?«
    »Ich höre Euch durchaus zu, Messire Belliard«, antwortete er mit monotoner Stimme. »Ihr und Er, ihr sagt beide das Gleiche: Töte den König.«
    Fünfzig Schritt von uns entfernt kam die kastenförmige, mit rotem Samt gepolsterte Kutsche aus Richtung Louvre auf uns zu.
    Leise wiederholte ich noch einmal alles für meinen Schulmeister. »Bleibt dicht hinter mir. Wenn die Kutsche anhält, werde ich hingehen und den König bitten, unsere Bittschrift entgegenzunehmen. Der Rest liegt bei Euch.«
    Auf ähnliche Art war der dritte Heinrich von Valois zwanzig Jahren zuvor ums Leben gekommen. Ein Mönch hatte sich ihm genähert, ihm statt einer Bittschrift jedoch einen Dolch präsentiert, den er im Ärmel seines Gewandes verborgen hatte. Demzufolge ging ich davon aus, dass die Männer dieses Heinrichs jedem Bittsteller mit Argwohn begegnen würden. Ravaillac hatte ein frisch geschärftes Messer dabei; dafür hatte ich gesorgt. Wenn sie es erst einmal entdeckt hatten, und in der anschließenden Verwirrung im Zuge der Verhaftung …
    Ich blickte hinter mich.
    Ich musste zum Fluss hinunter und das Arsenal erreichen, bevor die Agenten der Medici herausfanden, was in dem Chaos geschehen war. Sollten sich mir trotzdem Männer der Königin in den Weg stellen, würde ich ihnen in Maignans Namen Gerechtigkeit widerfahren lassen.
    Nun … Auch wenn die Ereignisse am Spätnachmittag des 14. Mai 1610 mittlerweile weithin bekannt sind, so ist vieles doch nur Gerücht, und vorgebliche Tatsachen werden verbreitet, die so nie geschehen sind. So heißt es, die Kutsche des Königs sei am Konvent der Karmeliterinnen aufgehalten worden, während ich gesehen habe, wie sie dreißig Fuß von mir entfernt mit dem Rad im Rinnstein einer
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