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16 Uhr 50 ab Paddington

16 Uhr 50 ab Paddington

Titel: 16 Uhr 50 ab Paddington
Autoren: Agatha Christie
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Malaise ist die Gier der Menschen», sagte Miss Marple. «Mancher Menschen. Sehr oft bringt diese den Stein ins Rollen. Am Anfang steht kein Mord, nicht einmal ein Wunsch zu morden oder auch nur der Gedanke daran. Am Anfang steht die nackte Gier; man will mehr haben, als einem zusteht.» Sie ließ ihr Strickzeug in den Schoß sinken und starrte ins Leere. «Durch einen solchen Fall habe ich übrigens Inspector Craddock kennen gelernt. Ein Fall auf dem Lande. In der Nähe von Medenham Spa. Der begann ganz genau so. Ein liebenswürdiger, aber schwacher Charakter wollte viel Geld. Geld, auf das er keinen Anspruch hatte, das aber anscheinend leicht zu bekommen war. Kein Gedanke an Mord. Bloß so kinderleicht, dass es nicht einmal unrecht wirkte. So fing alles an… und es endete mit drei Morden.»
    «Genau wie hier», sagte Lucy. «Jetzt sind schon drei Menschen ermordet worden. Die Frau, die sich als Martine ausgegeben hat und einen Anteil für ihren Sohn beansprucht hätte, dann Alfred und schließlich Harold. Und jetzt sind nur noch zwei übrig, richtig?»
    «Sie meinen, nur Cedric und Emma sind noch übrig?», fragte Miss Marple.
    «Emma nicht. Emma ist kein großer schwarzhaariger Mann. Nein, ich meine Cedric und Bryan Eastley. Ich habe Bryan lange Zeit ausgeklammert, weil er blond ist. Er hat einen blonden Schnurrbart und blaue Augen, aber wissen Sie – kürzlich…» Sie stockte.
    «Fahren Sie fort», sagte Miss Marple. «Sagen Sie es ruhig. Irgendetwas hat Sie ziemlich erschüttert, nicht wahr?»
    «Es war bei Lady Stoddart-Wests Abfahrt. Sie hatte sich schon verabschiedet, drehte sich am Auto aber noch einmal um und fragte: ‹Wer war eigentlich der große dunkle Mann auf der Terrasse, als ich gekommen bin?»
    Erst wusste ich nicht, wen sie meinte, weil Cedric ja noch ans Bett gefesselt war, und fragte etwas verwirrt: ‹Meinen Sie etwa Bryan Eastley?› Und sie sagte: ‹Natürlich, der war es, Geschwaderkommodore Eastley. Die Resistance hat ihn in Frankreich mal bei uns auf dem Speicher versteckt. Ich habe seine Statur und seine breiten Schultern wieder erkannt.› Dann meinte sie noch: «Ich würde ihn gern sprechen›, aber wir konnten ihn nirgends finden.»
    Miss Marple sagte nichts, saß nur abwartend da.
    «Und später habe ich ihn mir dann genauer angesehen», sagte Lucy. «Er stand mit dem Rücken zu mir, und da fiel mir auf, was mir schon viel früher hätte auffallen sollen. Auch bei einem blonden Mann können die Haare dunkel wirken, wenn er sie mit Pomade eincremt. Bryans Haare haben einen Bronzeton, aber wahrscheinlich können sie dunkler wirken. Deswegen könnte es auch Bryan gewesen sein, den Ihre Freundin im Zug gesehen hat. Es könnte…»
    «Ja», sagte Miss Marple, «daran hatte ich auch schon gedacht.»
    «Ich glaube, Sie denken wirklich an alles!», sagte Lucy bitter.
    «Aber Liebes, das muss man doch.»
    «Ich verstehe bloß nicht, was Bryan davon hätte. Das Geld würde doch an Alexander und nicht an ihn gehen. Klar, es würde den beiden vieles erleichtern, sie könnten sich ein bisschen mehr leisten, aber er könnte nicht mit dem Kapital seine Projekte finanzieren oder was immer er vorhat.»
    «Aber wenn Alexander vor dem einundzwanzigsten Lebensjahr etwas zustoßen würde, dann würde Bryan als sein Vater und nächster Angehöriger das Geld bekommen», bemerkte Miss Marple.
    Lucy sah sie entsetzt an.
    «Das würde er niemals tun! Kein Vater könnte so etwas tun – bloß um an Geld zu kommen.»
    Miss Marple seufzte. «Die Menschen tun so etwas, Liebes. Es ist traurig und schrecklich, aber sie tun so etwas.
    Die Menschen tun schreckliche Dinge», führte sie aus. «Ich kenne eine Frau, die drei ihrer Kinder vergiftet hat, bloß wegen einer kleinen Versicherungssumme. Dann gab es eine alte Dame, auf den ersten Blick eine nette alte Dame, die ihren Sohn vergiftet hat, als er im Fronturlaub nach Hause kam. Dann war da die alte Mrs. Stanwich. Ihr Fall ging durch die Zeitungen. Ich nehme an, Sie haben davon gelesen. Ihre Tochter starb, dann ihr Sohn, und schließlich sagte sie, sie selbst sei vergiftet worden. In ihrem Haferschleim fand sich tatsächlich Gift, aber wie sich herausstellte, hatte sie es selber hineingemischt. Sie war drauf und dran gewesen, auch die letzte Tochter zu vergiften. Und da ging es nicht einmal um Geld. Sie stieß sich bloß an der Jugend und Lebenslust ihrer Kinder und hatte Angst – es ist schrecklich, so etwas zu sagen, aber es ist wahr –, sie würden sich
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