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1441 - Der Seelenfluss

1441 - Der Seelenfluss

Titel: 1441 - Der Seelenfluss
Autoren: Jason Dark
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erkennen.
    Das Lokal war recht gut zu finden. Ich musste nicht erst durch zahlreiche Gassen laufen, entdeckte einen Widerschein aus rotem und blauen Licht auf dem Boden, als ich um eine Ecke gebogen war, und wunderte mich wenig später über die Größe der Kaschemme, wie Paul seinen Zufluchtsort genannt hatte.
    Eine breite Tür musste ich aufstoßen und trat praktisch in eine kleine Halle ein, die man zu einer Tränke für Menschen umgebaut hatte. Mir fiel die hohe Decke auf, unter der Rauchschwaden ihre Bahnen zogen, denn an das Qualmverbot hielt sich hier niemand.
    Wer hier verkehrte, dem war das egal.
    Übervoll war es nicht. Die meisten Gäste standen an der Theke. Sie stach wie ein breites, überdimensionales Lineal in den Raum hinein.
    Männer und Frauen drängten sich um ihre Getränke, und Paul zu finden würde nicht einfach sein. Es gab auch noch Tische und Stühle, die auf dem Steinboden standen.
    Musik gab es auch. Allerdings nicht in voller Lautstärke. So hatte ein verkleideter Nikolaus noch seine Chance, ein Weihnachtslied zu grölen.
    Paul brauchte ich nicht lange zu suchen. Er hatte mich entdeckt.
    Von der Theke her winkte er mir zu und deutete dabei zur Seite, wo freie Tische standen. Klar, was er mit mir zu reden hatte, wollte er unter vier Augen erledigen.
    Ich ging hin, und wir trafen uns am Tisch. Paul setzte sich als Erster, ich folgte, und schon beim ersten Blick in sein Gesicht sah ich, dass er Angst hatte. Sie lag in seinen Augen, die hin und wieder zuckten. Er stand dicht davor, seine Beherrschung zu verlieren. Er leckte sich einige Male über die Lippen, schluckte und klammerte sich dabei an seinem Bierglas fest.
    »Und?«, fragte ich.
    Paul beugte sich vor. »Ich habe Angst«, gab er zu. »Ich habe eine verfluchte Angst.«
    »Wovor?«
    »Das wissen Sie doch.«
    »Vor dem Schrecken?«
    »Ja, vor ihm. Nur von ihm, verdammt.«
    »Kennen Sie ihn?«
    »Nein, nicht direkt. Aber Sie kennen ihn doch. Oder müssen ihn erlebt haben.«
    Ich nickte. »Es war schon ungewöhnlich.«
    Paul staunte mich an. »Mehr sagen Sie nicht?«
    »Nein. Denn ich befand mich, wenn man es genau nimmt, nicht mal in akuter Lebensgefahr. Aber Sie haben Recht. Es gab den Schrecken, nur bestand er aus mehreren Teilen.«
    »Nicht der Schamane?«
    »Nein. Es waren kleine Drachen, die plötzlich auftauchten und uns angriffen.«
    Jetzt wurden Pauls Augen noch weiter. »Um Himmels Willen, das ist ja grauenvoll!«
    »Kann man so sehen.«
    »Und Sie leben noch?«
    »Im Gegensatz zu den Drachen.«
    Paul schloss die Augen. Er konnte im Moment nicht sprechen. Er saß da und stieß scharf die Luft aus. Sein Kopf war schwer geworden, deshalb sackte er nach vorn, und durch den Spalt zwischen seinen Lippen drang ein pfeifendes Geräusch.
    Ich ließ ihm Zeit, sich zu erholen. Er flüsterte immer wieder das Wort Drachen, bis er leicht zusammenzuckte und mich fragte: »Was haben Sie denn noch gesehen?«
    »Sollte ich denn noch etwas gesehen haben?«
    Erst sagte er nichts. Dann lachte er glucksend und nickte schließlich. »Diese verdammte Scheune«, flüsterte er schließlich. »In ihr – da ist doch was…«
    »Sie denken an die Menschen?«
    »Ja, verflucht, daran denke ich. An die Menschen und an die verschwundenen Frauen.« Er beugte sich nach vorn.
    »Oder glauben Sie daran, dass es eine Sage ist und nicht stimmt?«
    »Nein, nein, so ist das nicht.« Ich nickte ihm leicht zu. »Und ich muss Ihnen Recht geben, Paul. Es war tatsächlich jemand in der Scheune. Eine Frau.«
    »Tot?«, schnappte er.
    »Nein, das nicht. Aber sie befand sich in keiner guten Verfassung. Sie konnte auch nicht reden. Man muss ihr irgendetwas gespritzt haben. Jedenfalls haben wir sie losbinden und wegschaffen können, und zwar lebend.«
    Nach dieser Antwort bekam Paul eine Gänsehaut. Sein Gesicht zog sich regelrecht zusammen. »Das war wieder eine«, flüsterte er.
    »Man hat sich wieder eine geholt, um sie ihm zu übergeben. Sein Schatten ist da. Er schwebt über der Stadt. Die Vergangenheit kann einfach nicht mehr im Verborgenen bleiben. Irgendwann kommt sie zum Vorschein und schlägt zu.«
    »Dann sitzen wir hier ja richtig.«
    Paul winkte ab. »Das hat mit der echten Vergangenheit nichts zu tun. Hier soll es mal vor hundertfünfzig Jahren eine Opiumhöhle gegeben haben. Heute nimmt das Zeug kaum noch jemand, denke ich mir. Da gibt es andere Drogen.«
    Ich wollte nicht vom Thema abkommen und fragte: »Mit einer Droge muss auch die junge Chinesin
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