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14 - Roman

14 - Roman

Titel: 14 - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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dort verweilte, gelangte er wieder in die Realität seines Fehlens zurück. Erst nahm er an, dieser Zustand werde sich immer weiter abschwächen und dann verschwinden, bald aber wurde ihm klar, dass das Gegenteil der Fall war.
    Nach einigen Monaten spürte er tatsächlich, wie ein imaginärer neuer rechter Arm entstand, den er aber als ebenso real wahrnahm wie den linken. Die Existenz dieses Arms, ja seine Autonomie, wurde immer deutlicher spürbar, durch diverse quälende und stechende Empfindungen, Brennen, Kontraktionen, Krämpfe und Jucken – Anthime konnte sich bisweilen gerade noch zurückhalten, sonst hätte er sich kratzen wollen –, ganz zu schweigen von dem altbekannten Schmerz im Handgelenk. Die Realität dieser Empfindungen war intensiv und detailliert, bis hin zum Gefühl seines durch den Siegelring beschwerten kleinen Fingers, und die Schmerzen waren in der Lage, sich je nach den Umständen zu steigern: Schwermutsanfälle trugen ebenso dazu bei wie Wetterwechsel, vor allem bei feuchtkalter Witterung, wie Menschen mit Arthritis es kennen.
    Da dieser abwesende Arm manchmal anwesender schien als der andere, da er beharrlich war, hellwach, spöttisch wie ein schlechtes Gewissen, dünkte es Anthime bisweilen, er könne ihn manche willkürlichen Bewegungen vollführen lassen, lächerliche oder entscheidende Gesten, die aber niemand sah: So war er felsenfest überzeugt, sich auf ein Möbelstück stützen, die Faust ballen oder sämtliche Finger einzeln kontrollieren zu können, ja, er ging sogar so weit, das Telefon abnehmen zu wollen oder die Hand zum Abschied zu heben – er winkte oder meinte mit der Rechten zu winken, und er galt bereits bei denen, die da Abschied nahmen, als gefühllos.
    Da auch er selbst zwischen diesen beiden gegensätzlichen Wahrnehmungen hin- und hergerissen war, wusste Anthime zugleich genau, dass es sich hier um eine Anomalie handelte, fürchtete, es könne auffallen und niemand würde ihm das aus Mitleid zu sagen wagen – und er selbst wagte nicht, mit Padioleau darüber zu reden, genau demjenigen von den Menschen, mit denen er umging, der als Einziger diese Misshelligkeiten nicht sehen konnte. Welche indes immer schwerwiegender wurden, ihm das Leben dermaßen zur Last machten und so viel Raum einnahmen, dass Anthime ihnen irgendwann nicht mehr allein begegnen, nicht mehr mit ihnen leben konnte, ohne Beistand zu suchen. Als er sich endlich dazu aufraffte, Blanche davon zu erzählen, gestand sie ein, dass sie es längst bemerkt hatte, und forderte ihn natürlich auf, Monteil zu konsultieren.
    Also fand er sich bei dem Arzt ein, schilderte ihm die Dinge, deutete mit der linken Hand auf den fehlenden rechten Arm, wie wenn man auf einen stummen Zeugen weist, einen Komplizen, der sich schämt, dabei zu sein – während Monteil beim Zuhören bedächtig zum Fenster seiner Praxis schaute, hinter dem immer noch nichts zu sehen war. Nachdem Anthime seinen Fall dargelegt hatte, dachte Monteil noch einen Moment nach, dann ließ er eine kleine Ansprache vom Stapel. Das gibt es häufig, erläuterte er, viele Betroffene berichten davon. Die alte Sache mit dem Phantomglied. Es kommt durchaus vor, dass man das Bewusstsein und die Empfindung für einen verlorenen Körperteil behält und beides dann nach einigen Monaten verschwindet. Es kommt aber auch vor, und das schien bei Anthime der Fall zu sein, dass die Präsenz einer solchen Gliedmaße lange nach deren Verlust in die Organisation des Körpers zurückkehrt.
    Sodann fuhr der Arzt auf klassische Weise mit dieser Rede fort, führte statistische Daten an (der rechte Arm ist bei achtzig Prozent von uns der geschickteste Körperteil), historische Anekdoten (Admiral Nelson, der seinen rechten Arm in Santa Cruz de Tenerife verloren und dann unter denselben Erscheinungen gelitten hatte wie Anthime, sah in ihnen einen Beweis für die Existenz der Seele), mittelmäßige Scherze (der Trauring sitzt am linken Zeigefinger, man braucht die rechte Hand, um ihn abzunehmen: die Zwickmühle des untreuen Einarmigen), erschütternde Vergleiche (manche Männer, denen der Penis amputiert werden musste, berichteten von Phantom-Erektionen und -Ejakulationen), klinische Ehrlichkeit (der Ursprung dieser Schmerzen ist ebenso mysteriös wie das Phänomen selbst) sowie mal halb beruhigende (es kann von selbst vergehen, meist gibt es sich mit der Zeit mehr oder weniger), halb besorgniserregende Aussichten (es kann aber auch bis zu fünfundzwanzig Jahre lang dauern, auch
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