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1356

1356

Titel: 1356
Autoren: Bernard Cornwell
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suchte, nicht in dem Grab sein könnte, doch dann streckte er seinen Arm noch einmal so weit wie möglich in die Tiefe, und seine Fingerspitzen berührten etwas, das in zarten Stoff gewickelt war, der nicht zerfiel. Er tastete blind umher, erwischte ein Stück des Stoffs und zog daran. Ein Gegenstand war in den zarten Stoff gewickelt, ein schwerer Gegenstand, und er zog ihn behutsam näher, dann bekam er ihn schließlich richtig zu fassen und zog ihn aus dem Griff der Knochenhände, die den Gegenstand gehalten hatten. Er zog den Gegenstand aus dem Grab und stand auf. Er musste ihn nicht auswickeln. Er wusste, dass er
La Malice
gefunden hatte, und zum Dank drehte er sich zu dem schlichten Altar auf der Ostseite der Krypta um und bekreuzigte sich. «Danke, Herr», murmelte er, «danke, Sankt Petrus, und danke, Sankt Junien. Jetzt müsst ihr mich beschützen.»
    Und himmlischen Schutz würde der Mönch auch notwendig haben. Einen Moment dachte er daran, sich in der Krypta zu verstecken, bis die Armee, die in Carcassonne eingefallen war, wieder abzog, doch das konnte Tage dauern, und davon abgesehen würden die Soldaten, nachdem sie sich die leichte Beute geholt hatten, auch die Gräber in der Krypta aufbrechen und nach Ringen, Kruzifixen und allem anderen suchen, das sich verkaufen ließ. Die Krypta hatte
La Malice
einhundertfünfzig Jahre lang Zuflucht geboten, aber der Mönch wusste, dass sie ihm selbst höchstens ein paar Stunden lang Sicherheit bieten konnte.
    Fra Ferdinand ließ die Brechstange liegen und ging die Treppe hinauf.
La Malice
war so lang wie sein Arm und überraschend schwer. Die Waffe hatte einst einen Griff gehabt, doch nun war nur noch die dünne, metallene Angel übrig, und an diesem groben Heft hielt er das Schwert. Immer noch war es in den zarten Stoff gehüllt, den er für Seide hielt.
    Das Kirchenschiff war von den lodernden Flammen erhellt, die aus den Häusern auf dem kleinen Platz davor schlugen. Es waren drei Männer in der Kirche, und einer rief der Gestalt im dunklen Umhang, die auf der Treppe zur Krypta auftauchte, herausfordernd und mit vorgerecktem Kinn etwas zu. Die drei waren Bogenschützen, ihre langen Bogenstäbe lehnten am Altar, und im Grunde interessierten sie sich nicht für den Fremden, sondern ausschließlich für die Frau, die sie mit gespreizten Beinen auf die Altartreppe gedrückt hatten. Einen Augenblick lang war Fra Ferdinand versucht, die Frau zu retten, doch dann kamen durch eine Seitentür vier oder fünf weitere Männer herein und brüllten begeistert auf, als sie den nackten Körper auf den Stufen sahen. Sie hatten ein weiteres Mädchen mitgebracht, ein Mädchen, das schrie und kämpfte, und der Mönch erschauerte bei den verzweifelten Rufen. Er hörte, wie die Kleidung der jungen Frau zerriss, hörte ihr Jammern, und er dachte an all seine eigenen Sünden. Er bekreuzigte sich. «Vergib mir, Herr Jesus», flüsterte er und trat, weil er doch nicht helfen konnte, durch die Kirchentür auf den kleinen Vorplatz. Flammen fraßen sich in lodernd brennende Strohdächer und schossen wilde Funkengarben in den Wind. Rauch quoll über der Stadt empor. Ein Soldat mit dem roten Sankt-Georgs-Kreuz auf dem Wappenrock übergab sich auf der Kirchentreppe, und ein Hund lief herbei, um das Erbrochene aufzulecken. Der Mönch wandte sich Richtung Fluss, weil er hoffte, über die Brücke und schließlich in die Cité zu gelangen. Hinter den Doppelmauern, Türmen und Zinnen von Carcassonne hoffte er Schutz zu finden, denn er bezweifelte, dass diese wilde Armee die Geduld für eine Belagerung aufbringen konnte. Zwar hatten sie die
Bourg
erobert, das Handelsviertel auf dem Westufer des Flusses, aber dieses Viertel hatte noch nie verteidigt werden können. Die meisten Werkstätten der Stadt lagen in der
Bourg
, dort waren die Lederhändler, die Silber- und Waffenschmiede und Geflügelverkäufer und Kleidungshändler, und deren Besitztümer wurden nur von einem ringförmigen Erdwall geschützt, und die Armee war wie eine Flut über diese kümmerliche Befestigung hinweggegangen. Die
Cité
von Carcassonne dagegen war eine Festung, eine der gewaltigsten in Frankreich, eine Bastion, die von enormen Steintürmen und hoch aufragenden Mauern umgeben war. Dort wäre er sicher. Er würde ein Versteck für
La Malice
finden und abwarten, bis es eine Möglichkeit gab, die Waffe an ihren Besitzer zurückzugeben.
    Im Schutz der Dunkelheit betrat er eine Straße, in der keine Brände gelegt worden waren.
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