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1269 - Julie

1269 - Julie

Titel: 1269 - Julie
Autoren: Jason Dark
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mir eine gewisse Zeit gegeben. »Nun, Mr. Sinclair, was sagen Sie?«
    Ich schaute auf die dem Betrachter zugestreckten Hände, die leer waren.
    Trotzdem bekam ich einen bestimmten Eindruck. Der Engel sah aus, als wollte er mir etwas überreichen, obwohl sich nichts in seinen Händen befand.
    »Er ist sehr schön gemalt.«
    »Das ist wohl wahr. Wenn man bedenkt, dass Julie nicht eben ein Malgenie ist, kann man das schon als ein kleines Kunstwerk betrachten.«
    »Liebt sie Engel?«
    »Das kann man jetzt so sagen, obwohl es nicht immer so gewesen ist. Wenn sie malte, dann eben die Engel, und dieser hier ist nicht der Einzige. Aber blättern Sie weiter.«
    Sie hatte es mit einem bestimmten Unterton in der Stimme gesagt. So war ich neugierig geworden und schlug das nächste Bild auf.
    Es war natürlich wieder ein Engel. Beim ersten Hinschauen glaubte ich, dass er identisch mit dem war, den ich schon gesehen hatte. Dann erkannte ich meinen Irrtum.
    Dieser Engel sah anders aus. Zumindest vom Gesicht her, und die Farben waren auch nicht ganz so hell. Sie hatte zwar keine anderen genommen, dennoch wirkten sie etwas düsterer, und auch der Ausdruck des Gesichts war weniger freundlich. Die Mundwinkel hatten einen Knick nach unten bekommen, und auch das Gold der Augen hatte sich zurückgezogen. So sahen sie viel blasser aus.
    »Was sagen Sie, Mr. Sinclair?«
    Ich deutete auf die Zeichnung. »Da scheint Julie sich in einem etwas anderen Zustand befunden zu haben.«
    »Das denke ich auch. Aber nehmen Sie sich die anderen Zeichnungen vor, Sie werden immer den gleichen Engel sehen, nur eben in anderen Variationen. Ich gehe zumindest davon aus, dass es der gleiche Engel ist, aber Ich kann mich auch irren.«
    »Wir werden sehen.«
    Eine Sekunde später lag die drille Zeichnung vor mir, die ich betrachtete.
    Ja, es war wieder der gleiche Engel, aber diesmal in noch dunkleren Farben gezeichnet. Das Gesicht wirkte keineswegs freundlich auf mich.
    Ich fand es sogar abweisend und runzelte die Stirn.
    »Es gefällt Ihnen nicht, oder«
    »Nicht besonders.«
    »Aber es ist ein Engel.«
    »Das waren die beiden anderen auch.«
    »Schauen Sie sich die nächsten Zeichnungen an, Mr. Sinclair.«
    Das tat ich gern oder ungern, je nachdem, wie man es nimmt. Ich blätterte weiter, und ich sah eine Gestalt vor mir, die man nicht mehr als einen Engel ansehen konnte wie ihn die Menschen sich vorstellen. Von den Grundstrichen her glich er noch dem ersten Engel, aber das war auch alles. Die goldene Farbe war verschwunden, jetzt herrschten die dunklen Töne vor. Grau die Umrisse, grau das Gesicht mit seinen etwas verzerrten Zügen. Und auch die Augen sahen dunkel aus.
    Selbst die Flügel hatten eine andere Form bekommen. An den Enden standen sie fast hoch wie die Schwingen von Fledermäusen.
    Ich nickte vor mich hin. »Das ist schon interessant, Mrs. Franklin.«
    »Was schließen Sie daraus?«
    »Es zeigt den Gemütszustand, in dem sich das Kind befunden hat, nehme ich an.«
    »Ja… das meine ich auch. Ihr Zustand wird immer finsterer. Sie zeichnet, was sie fühlt.«
    »Und das sehr genau.«
    Sina schüttelte den Kopf. »Bitte, Mr. Sinclair, das hat etwas skeptisch geklungen.«
    »Nun, das sollte es beim besten Willen nicht sein. Ich frage mich nur, wie sie auf dieses Motiv gekommen ist. Entsprang es nur ihrer Fantasie oder…«
    »Oder?«, fiel sie mir ins Wort und setzte sich gespannt und schon leicht steif hin.
    »Oder hat sie so etwas gesehen?«
    »Wo denn?«
    »In einem ihrer Bücher.«
    »Nein, das hat sie nicht«, erklärte die Frau entschieden. »Ich kenne all ihre Bücher. Das wäre mir aufgefallen. Da sind Sie auf der falschen Fährte.«
    »Ich glaube Ihnen gern, dass Sie die Bücher kennen, Mrs. Franklin. Allerdings habe ich da noch ein kleines Problem. Julie kann sich andere Bücher verschafft haben, wenn wir uns auf dieses Ergebnis versteifen wollen.«
    »Das möchten Sie nicht - oder?«
    »Nicht unbedingt, Mrs. Franklin. Ich sage nicht einmal, dass es unbedingt ein Produkt ihrer Fantasie ist.«
    Mit der letzten Antwort hatte ich sie erschreckt. »Mein Gott, dann bliebe ja nur eine Möglichkeit übrig. Dass sie diesen Engel…«, sie wollte nicht weitersprechen.
    Das übernahm ich. »Genau, Mrs. Franklin. Dass sie ihn mit eigenen Augen gesehen hat.«
    Die Erzieherin blieb sitzen, ohne ein Wort zu sagen. Sie wirkte ziemlich mitgenommen und strich mehrmals über ihr Gesicht. Auch atmete sie schärfer als gewöhnlich, und einige Male zuckten die
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