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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen
Autoren: Elizabeth George
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hatte ihren uralten gelben Chenillemorgenrock an, wie ihr Sohn verdrossen feststellte.
    Er sagte: »Wo ist der, den ich dir zum Muttertag geschenkt hab?«
    »Wer? Was?«, fragte seine Mutter.
    »Du weißt es ganz genau. Der neue Morgenrock.«
    »Der ist doch viel zu elegant für alle Tage, Herzblatt«, antwortete sie. Und bevor er ihr vorhalten konnte, dass Morgenröcke nicht dazu gedacht waren, für einen eventuellen Empfang bei der Queen geschont zu werden, und warum sie ihn nicht einfach anziehe, er habe schließlich zwei Wochenlöhne für das Ding ausgegeben, sagte sie: »Wo willst du denn um die Zeit noch hin?«
    »Ich hab mir gedacht, ich fahr mal ins Krankenhaus und schau, wie's dem Super geht«, antwortete er ihr. »Der Fall ist geklärt - der Inspector hat den Typen geschnappt, der die Leute mit seinem Auto umgefahren hat -, aber der Super liegt immer noch im Koma und ...« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, irgendwie find ich, es gehört sich einfach.«
    »Um diese Zeit?« Alice Nkata warf einen Blick auf die kleine Wedgwood-Uhr, die auf dem Tischchen neben ihr stand, ein Weihnachtsgeschenk ihres Sohnes. »Ich hab noch nie von einem Krankenhaus gehört, wo mitten in der Nacht Besuchszeit ist.«
    »Doch nicht mitten in der Nacht, Mama.«
    »Du weißt, was ich meine.«
    »Ich kann sowieso nicht schlafen, bin viel zu aufgedreht. Wenn ich der Familie irgendwie helfen kann ... Na ja, wie gesagt, ich find, es gehört sich.«
    Sie musterte ihn. »Und angezogen wie zu 'ner Hochzeit«, stellte sie mit einer gewissen Schärfe fest.
    Oder zu einer Beerdigung, dachte Nkata. Aber so einen Gedanken wollte er gar nicht erst zulassen und zwang sich, schnell an etwas zu denken: zum Beispiel, warum er so überzeugt gewesen war, dass Katja Wolff die Mörderin Eugenie Davies' wäre und die Fahrerin des Wagens, der den Superintendent so schwer verletzt hatte; und was es eigentlich bedeutete, dass Katja Wolff keines dieser Verbrechen begangen hatte.
    Er sagte: »Ehre, wem Ehre gebührt, Mama. Das hast du selbst mir immer gepredigt, als ich noch ein kleiner Junge war.«
    Seine Mutter machte nur »Hm«, aber er merkte genau, dass sie mit ihm zufrieden war. Sie sagte: »Dann pass auf dich auf, Herzblatt. Wenn du an der Ecke Glatzen mit Springerstiefeln rumlungern siehst, dann mach einen großen Bogen um sie. Am besten gehst du in die andere Richtung. Verstanden?«
    »Ja, Mama.«
    »Nichts da ›Ja, Mama‹, als wüsste ich nicht, wovon ich rede.«
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Ich weiß, was ich zu tun hab.«
    Er küsste sie auf den Scheitel und ging. Ein wenig zwickte ihn sein Gewissen, weil er geflunkert hatte - das hatte er seit der Pubertät nicht mehr getan -, aber, sagte er sich, er hatte es ja nur der Einfachheit halber getan. Es war spät, er hätte erst lange Erklärungen abgeben müssen, aber er musste los.
    Die Siedlung, in der die Nkatas lebten, sah im Regen noch trostloser aus als gewöhnlich. Das Wasser, das der Wind in die ungeschützten obersten Gänge der Außengalerien fegte, an denen die Wohnungen lagen, tropfte durch Ritzen und Sprünge in Böden und Mauern des alten Hauses, das nur notdürftig instand gehalten wurde, in die unteren Etagen hinunter, wo sich in den Durchgängen große Pfützen gesammelt hatten. Die Treppenstufen, deren Gummibelag völlig durchgetreten, an einigen Stellen auch von mutwilligen Jugendlichen, die nichts Besseres zu tun hatten, abgerissen worden war, waren wie üblich gefährlich glatt. Und unten, im sogenannten Garten, wo vor langer Zeit einmal eine Rasenfläche mit Blumen gewesen war, befand sich jetzt eine Schlammwüste voller Abfälle - leere Dosen, Fast-Food-Behälter, Wegwerfwindeln -, die beredtes Zeugnis davon ablegten, was Frustration und Verzweiflung aus Menschen machten, die der - nicht selten durch Erfahrung bestätigten - Überzeugung waren, ihre Chancen wären auf Grund ihrer Hautfarbe stark begrenzt.
    Nkata hatte seinen Eltern mehr als einmal vorgeschlagen, sie sollten umziehen, hatte sich sogar bereit erklärt, sie finanziell zu unterstützen, um ihnen das zu ermöglichen. Aber sie hatten jedes Mal abgelehnt. Man könne nicht immer gleich die Wurzeln herausreißen, hatte Alice Nkata ihrem Sohn erklärt; da bestünde die Gefahr, dass die ganze Pflanze eingehe. Außerdem gäben sie allen anderen ein Beispiel, indem sie hier blieben, noch dazu mit einem Sohn, der es geschafft hatte, dieser Gegend zu entrinnen, in der er leicht hätte untergehen
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