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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht
Autoren: Sergej Lukianenko
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wolltest du mir etwas sagen?«, erkundigte sich mein unsichtbarer Gesprächspartner.
    »Nein. Nichts«, sagte ich verdrossen.
    »Na, na. Wo bleibt das Ich schätze mich glücklich, Euch zu Diensten zu sein, Euer Wohlgeboren?«
    »Ich bin nicht glücklich. Tut mir Leid … Euer Wohlgeboren.«
    Der Chef schwieg einen Moment.
    »Anton, ich bitte dich trotzdem, die Entwicklung der Lage mit etwas mehr Ernst zu betrachten. Abgemacht? Morgen früh erwarte ich deinen Bericht, so oder so. Und … viel Glück.«
    Verlegen wurde ich deswegen nicht. Aber immerhin regte ich mich etwas ab. Nachdem ich mein Handy in die Jackentasche gesteckt hatte, öffnete ich den Schrank in der Diele. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich meine Montur irgendwie aufpeppen sollte. Ich hatte ein paar neue Klamotten, die mir Freunde in der letzten Woche geschenkt hatten. Am Ende beließ ich es jedoch bei der gewöhnlichen Kluft, die recht vielseitig und ziemlich kompakt war.
    Fehlte noch der MD-Player. Die Musik bräuchte ich gar nicht, aber Langeweile ist ein unerbittlicher Feind.
    An der Wohnungstür spähte ich lange durch den Spion ins Treppenhaus hinaus. Niemand da.
    Eine weitere Nacht begann. Sechs Stunden lang fuhr ich mit der Metro, wechselte ohne irgendein Prinzip die Linien, döste immer mal wieder ein, damit sich mein Bewusstsein erholen und meine Sinne frei werden konnten. Alles war ruhig. Nun ja, das eine oder andere Interessante sah ich schon, aber alle diese Fälle hatten weiter nichts Besonderes an sich, sie waren etwas für Neulinge. Erst gegen elf, als die Metro sich merklich leerte, änderte sich die Situation.
    Mit geschlossenen Augen saß ich da und hörte schon zum dritten Mal an diesem Abend die fünfte Symphonie von Manfredini. Die Mini-Disc im Player war absolut verrückt, meine höchstpersönliche Zusammenstellung, bei der sich das italienische Mittelalter und Bach mit den Rockgruppen Alissa und Piknik oder Ritchie Blackmore ablösten.
    Es war immer spannend, welche Melodie mit welchem Ereignis zusammentraf. Heute untermalte Manfredini mein Glück.
    Etwas presste mich zusammen, ein Krampf, der von den Zehen bis zu den Haarwurzeln alles erfasste. Ich zischte sogar unwillkürlich irgendwas, als ich die Augen öffnete und den Blick durch den Waggon schweifen ließ.
    Sofort entdeckte ich die Frau.
    Eine junge und sehr sympathische Frau. In einem eleganten Pelz, mit einer Handtasche und einem Buch in Händen.
    Und mit einem derart gewaltigen schwarzen Wirbelwind über dem Kopf, wie ich ihn seit bestimmt drei Jahren nicht mehr gesehen hatte!
    Vermutlich guckte ich wie ein Wahnsinniger drein. Was die Frau spürte, denn sie sah zu mir herüber, wandte den Blick aber gleich wieder ab.
    Du solltest lieber nach oben schauen!
    Nein, sie war natürlich nicht imstande, den Strudel zu sehen. Bestenfalls konnte sie etwas spüren, eine leichte Unruhe. Und nur ganz vage, nur aus den Augenwinkeln heraus, vermochte sie ein Flirren über ihrem Kopf wahrzunehmen – als schwirrten Fliegen über ihr, als flimmerte an einem heißen Tag die Luft über dem Asphalt …
    Doch sehen konnte sie nichts. Nichts. Sie würde noch einen oder zwei Tage leben, bevor sie auf Glatteis ausrutschte, und zwar so, dass sie eine tödliche Kopfverletzung davontrug. Oder sie würde unter ein Auto geraten. Oder im Hauseingang ins Messer eines Verbrechers laufen – der nicht die geringste Ahnung hatte, warum er diese Frau umbrachte. Und alle Welt würde sagen: »Sie war so jung, das ganze Leben lag noch vor ihr, alle haben sie gern gehabt …«
    Ja. Ganz bestimmt. Das glaube ich, zu gut und zu freundlich ist ihr Gesicht. Müdigkeit zeichnet sich in ihm ab, aber keine Verbitterung. Neben einer solchen Frau fühlst du dich nicht so mies, wie du eigentlich bist. Du versuchst, besser zu sein, auch wenn es dir schwer fällt. Mit solchen Frauen möchte man gern befreundet sein, ein wenig flirten, Geheimnisse teilen. In solche Frauen verliebt man sich selten, doch lieben tun alle sie.
    Bis auf den einen, der den Dunklen Magier bezahlt hat.
    Ein schwarzer Strudel ist im Grunde eine völlig alltägliche Erscheinung. Als ich mich umsah, konnte ich noch weitere fünf oder sechs entdecken, die über den Köpfen der Fahrgäste hingen. Doch sie alle wirkten verwischt, trübe und drehten sich kaum. Resultate eines absolut durchschnittlichen, unprofessionellen Fluchs. Jemand wirft einem anderen ein »Verrecken sollst du, Dreckskerl!« hinterher. Ein anderer drückt es schlichter,
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