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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht
Autoren: Sergej Lukianenko
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unsichtbare Gummileine, die Worte riefen ihn – und er konnte nichts dagegen tun. Obwohl er wusste, dass er sich nicht bewegen durfte, machte er einen Schritt. Die Frau lächelte, und ihre ebenmäßigen weißen Zähne blitzten auf. »Bind deinen Schal ab«, sagte sie.
    Er schaffte es nicht mehr, sich dagegen zu wehren. Mit zitternden Händen schob er die Kapuze nach hinten und zog den lose umgebundenen Schal weg. Er ging auf die schwarzen Augen zu, die ihn riefen.
    Etwas geschah mit dem Gesicht der Frau. Der Unterkiefer hing plötzlich herunter, die Zähne erbebten, krümmten sich. Lange Eckzähne blitzten auf, die nichts Menschliches mehr an sich hatten.
    Jegor machte noch einen Schritt.

Eins
    Die Nacht ließ sich schlecht an.
    Als ich aufwachte, dunkelte es bereits. Vom Bett aus beobachtete ich, wie sich die letzten Lichtstrahlen durch die Ritzen der Jalousien verkrochen, und dachte nach. Die fünfte Nacht auf Jagd – und null Erfolg. Kaum anzunehmen, dass ich heute mehr Glück haben würde.
    Die Wohnung war kalt, die Heizung höchstens lauwarm. Am Winter mag ich überhaupt nur eins: dass es früh dunkel wird und nur wenige Leute auf den Straßen sind. Ansonsten … ansonsten hätte ich schon längst alles hingeschmissen, hätte Moskau verlassen und wäre nach Jalta oder Sotschi gefahren. Irgendwohin ans Schwarze Meer, bloß nicht auf eine dieser fernen Inseln in fremden warmen Ozeanen – ich mag es nun mal, wenn man um mich herum Russisch spricht.
    Das sind dumme Träume, na klar.
    Ist nämlich noch ein bisschen früh für mich, um mich irgendwo in warmen Gefilden zur Ruhe zu setzen.
    Das hab ich mir noch nicht verdient.
    Das Telefon schien förmlich darauf gewartet zu haben, dass ich wach werde, und läutete jetzt energisch, geradezu widerlich. Ich griff nach dem Hörer und presste ihn ans Ohr, schweigend, ohne ein Wort zu sagen.
    »Anton, melde dich!«
    Ich schwieg. Larissas Stimme klang sachlich, konzentriert, aber auch müde. Bestimmt hatte sie den ganzen Tag nicht geschlafen. »Anton, soll ich dir den Chef geben?«
    »Nicht nötig«, brummte ich.
    »He, he. Bist du überhaupt schon wach?«
    »Hm.«
    »Jeden Tag das Gleiche mit dir.«
    »Gibt’s was Neues?«
    »Nein, nichts.«
    »Hast du was zum Frühstück da?«
    »Werd schon was finden.«
    »Gut. Viel Erfolg.«
    Der Wunsch kam ohne rechte Überzeugung, ohne Anteilnahme. Larissa glaubte nicht an mich. Der Chef vermutlich auch nicht.
    »Vielen Dank auch«, sagte ich zu den rasch aufeinander folgenden Pieptönen des Telefons. Ich stand auf und begab mich auf eine Exkursion in Klo und Bad. Ich wollte mir schon Zahnpasta auf die Bürste drücken, begriff dann aber, dass ich den zweiten Schritt vor dem ersten machte, und legte die Bürste auf den Rand des Waschbeckens.
    Obwohl es in der Küche stockdunkel war, knipste ich das Licht natürlich nicht an. Ich öffnete den Kühlschrank, in dem das herausgeschraubte Lämpchen zwischen den Lebensmitteln vor sich hin fror. Mein Blick fiel auf eine Kasserolle, in der ein Sieb hing. Darin lag ein Stück halb aufgetautes Fleisch. Ich nahm das Sieb heraus, setzte den Topf an die Lippen und trank einen Schluck.
    Falls irgendjemand glaubt, Schweineblut schmecke lecker, irrt er gewaltig.
    Nachdem ich die Kasserolle mit dem restlichen, bereits aus dem Fleisch getropften Blut zurückgestellt hatte, ging ich wieder ins Bad. Die trübe blaue Lampe kam kaum gegen die Dunkelheit an. Ausgiebig und verbissen putzte ich mir die Zähne, hielt es aber schließlich doch nicht mehr aus und wanderte noch einmal in die Küche, um eine Flasche aus dem Froster zu nehmen und daraus einen Schluck eisgekühlten Wodkas zu trinken. Danach strömte nicht einfach Wärme durch meinen Bauch, sondern glühende Hitze. Was für ein wunderbares Bouquet aus Empfindungen: die Kälte an den Zähnen und die Glut im Bauch.
    »Hol dich doch …«, setzte ich in Gedanken an meinen Chef an, konnte mich aber noch rechtzeitig bremsen. Bei ihm musste man damit rechnen, dass er sogar halb ausgesprochene Flüche spürte. Ich tigerte eine Weile durchs Zimmer und fing an, meine überall verstreuten Kleidungsstücke einzusammeln. Die Hose lag unter dem Bett, die Socken auf dem Fensterbrett, und das Hemd hing aus irgendeinem Grund über der Maske des Choyong.
    Missbilligend sah der alte koreanische Herrscher mich an.
    »Pass halt besser auf«, brummte ich. In dem Moment schrillte abermals das Telefon. Ich sprang im Zimmer umher, bis ich es endlich fand.
    »Anton,
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