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083 - Das Gasthaus an der Themse

083 - Das Gasthaus an der Themse

Titel: 083 - Das Gasthaus an der Themse
Autoren: Edgar Wallace
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»Mutter« Oaks. Der »Mekka«-Club war halb Holz- und halb Ziegelbau. In dem aus Ziegeln errichteten Teil, der ehemaligen Mälzerei eines Brauhauses, befanden sich die komfortabelsten Zimmer. Vor dem Club zog sich ein schmaler Rasenstreifen hin, auf dem zwei Gartenbänke standen. Jahr um Jahr säte Golly unterhalb des Hauses Blumen an, aber nie kam auch nur eine einzige Blüte heraus. Beim Fischen war Golly genauso erfolglos. Die Fenster des Clubhauses boten eine schöne Aussicht. Auf dem breiten Fluß wimmelte es von Schiffen. Am anderen Ufer, das zur Grafschaft Surrey gehörte, war bei Fenny's gewöhnlich eine Seilfähre vertäut. In der Nähe ankerten die deutschen Schiffe. An den hohen Masten der Überseedampfer flatterten die Wimpel, und an den Kais lagen meist ein oder zwei Frachter. Lila Smith stand oft an dem großen Fenster des Speisesaales und beobachtete fasziniert das Leben und Treiben auf dem Fluß. Dampfer glitten langsam und vorsichtig stromaufwärts. Die Positionslichter der Fischerboote blitzten. Da gab es die Orangenfrachter aus Spanien und die großen Schlepper, die »Herren« des Flusses - »Johnny O« und »Tommy O«, »John und Mary« sowie »Sarah Lane« und die »Fairway«. Lila erkannte sie alle, selbst bei Nacht.
    Clubgäste, die von großer Fahrt zurückkehrten, stellten erstaunt fest, daß Lila plötzlich kein Kind mehr war. Mit dem runden Gesichtchen und den großen Augen war sie immer hübsch gewesen, doch jetzt besaß sie einen schwer zu beschreibenden Charme. Ihre Züge hatten sich gefestigt, und das verlieh ihr einen besonderen Reiz. Auch jetzt stand sie am Fenster, eine zarte Gestalt in einem schäbigen schwarzen Kleid und Schuhen mit schiefgelaufenen Absätzen. Vom tiefen Heulen einer Sirene oder dem ungeduldigen Hupen eines Schleppers angelockt, sah sie auf den Fluß hinaus. »Stehst du schon wieder rum und hältst Maulaffen feil!« keifte Mutter Oaks, die eben hereingekommen war und das Mädchen bei seiner Lieblingsbeschäftigung ertappt hatte. »Reiß dich ein bißchen zusammen! Die Neue auf Nummer sieben will Tee.« »Ja, Tante.« Lila lief in die Küche. Die krächzende, nörgelnde Stimme jagte ihr Angst ein — hatte ihr schon immer Angst eingejagt. Manchmal wünschte sie sich ein anderes Leben, und sie hatte auch eine unklare Vorstellung davon, wie dieses Leben sein sollte. Es gab da Bäume und weite Rasenflächen wie im Greenwich Park und Menschen, die freundlich und rücksichtsvoll zueinander waren. Davon träumte sie meistens, wenn sie die Schiffe auf dem Fluß beobachtete. Sie träumte auch jetzt, als sie den Tee einschenkte und das schlampige Hausmädchen mit der dicken Tasse und den noch dickeren Butterbroten in Zimmer sieben schickte. Das kleine rechteckige Fenster, das die muffige Küche mit frischer Luft versorgte, stand weit offen. Es war ein kalter Morgen, aber die Sonne malte ein blaßgoldenes Muster auf das Wasser des Flusses. Plötzlich blickte Lila auf. Vom Kai her schaute ein Mann zu ihr herüber — ein hochgewachsener Mann mit einem anziehenden, gebräunten Gesicht. Er trug keinen Hut, und sein kurzgeschnittenes braunes Haar war leicht gewellt. »Guten Morgen, Prinzessin!« Sie lächelte ihm verschüchtert zu, und als das Lächeln erloschen war, sah ihr Gesicht noch ernster aus als vorher. »Guten Morgen, Inspektor Wade«, sagte sie und geriet dabei ein bißchen außer Atem. Er war der einzige Mensch, der diese Wirkung auf sie ausübte. Sie fürchtete sich vor ihm nicht etwa seines ehrenrührigen Berufs wegen. Mutter Oaks sagte immer. Polizisten seien nichts anderes als Ganoven, die nicht den Mut hätten, Diebe zu sein. Wade machte Lila auch nicht deshalb so nervös, weil sie sich immer nur heimlich treffen konnten. Er bedeutete ihr ungeheuer viel. Warum das so war, ahnte sie allerdings nicht, und das brachte sie völlig durcheinander. Lange Zeit hatte sie in ihm einen alten Mann gesehen — einen Mann, fast so alt wie Golly. Und eines Tages war sie selbst erwachsen und erkannte, daß er derselben Generation angehörte wie sie.
    Er stellte ihr nie peinliche Fragen und versuchte auch nicht, sie über »Familienangelegenheiten« im engeren und weiteren Sinn auszuhorchen. Das wütende Kreuzverhör, dem Mutter Oaks sie nach jedem Treffen mit Wade unterzog, ergab nie etwas Beunruhigendes. »Warum nennt man Sie eigentlich ›Polyp‹, Inspektor Wade?« hatte Lila ihn einmal gefragt und war über ihre Worte schon erschrocken, ehe sie zu Ende gesprochen hatte.
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