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0797 - Tränenjäger

0797 - Tränenjäger

Titel: 0797 - Tränenjäger
Autoren: Volker Krämer
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hatte.
    Nach mehr als zwanzig Jahren - wie konnte es sein, dass es hier noch immer so roch?
    Langsam stellte sich Erfolg bei ihrer Reinigungsaktion ein. Erst das linke, dann auch das rechte Auge ließen sich zunächst einen Spalt breit öffnen; dann gelang es ihr, mit einem Ruck die letzten verklebten Reste zu entfernen. Sie blinzelte, denn durch die Deckenluken fiel grelles Licht direkt auf ihr Gesicht.
    Die Deckenluken. Ja, selbst durch sie hatte es Fluchtversuche gegeben, die von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. So wie alle anderen Versuche auch.
    Einige Sekunden brauchten ihre Augen, dann hatten sie sich an die Helligkeit gewöhnt. Eine zu schnelle Bewegung ihres Kopfes wurde durch einen beißenden Schmerz bestraft. Sie musste geduldig sein, sich Zeit nehmen. Denn sie war sicher, dass sie davon nun genug haben würde.
    Langsam bewegte sie ihren Kopf von links nach rechts. Nichts hatte sich hier verändert. Es war, als hätte es die vergangenen Jahre nicht gegeben. Nur mit dem Unterschied, dass hier stets gut sechzig und mehr Menschen gelebt hatten. Jetzt war sie offenbar alleine in der Halle.
    Gelebt? Vegetiert war ganz sicher der richtigere Ausdruck, denn man hatte sie hier gehalten wie Tiere. Und nichts anderes waren sie für ihre Wächter schließlich auch gewesen - Schlachtvieh, das zur Ernährung diente.
    Jedoch nicht allein dazu. Es hatte noch andere Dinge gegeben, für die man die Gefangenen benutzt hatte. Viele waren gestorben. Manchmal waren neue arme Seelen hinzugekommen, die den Fehler begangen hatten, sich diesem Ort zu sehr zu nähern.
    Der Stall, denn das war der ursprüngliche Sinn des Gebäudes gewesen, maß in der Länge gute zwanzig Meter. Einige der hohen Fenster waren geöffnet, bei anderen fehlte die Verglasung vollkommen. An Luftzufuhr mangelte es also nicht. Dennoch lag der Gestank von Jahrzehnten so dicht und undurchdringlich in der Luft, dass man glaubte, ihn berühren, umklammern zu können.
    Der Ekel der Erinnerung ließ sie würgen.
    »Bleib noch liegen, Khira. Du solltest dir Zeit lassen.«
    Die Stimme kam aus einer Richtung, die von ihrer Position aus nicht einsehbar war. Diese Stimme, die sich so nahtlos in die Erinnerungen einpasste, die über Khira Stolt herfielen.
    Die sonore, beruhigende Stimme, die immer irgendwie zu singen schien. Sie war Wohlklang, Schwingung und Freundlichkeit in Symbiose! Doch es durfte sie nicht geben - nicht mehr geben. Auch sie war damals an diesem entsetzlichen Tag für immer verstummt.
    Zumindest hatte Khira das zwei Jahrzehnte lang geglaubt.
    »Was für ein mieser Trick ist das? Verdammter Dreckskerl, rede nicht mit dieser Stimme zu mir!« Jedes Wort ließ eine kleine Explosion in Khiras Gehirn folgen. Ganz offensichtlich hatte sie eine größere Verletzung am Kopf, wahrscheinlich sogar eine ausgewachsene Gehirnerschütterung. Doch das war der Kleinwüchsigen jetzt egal.
    »Mit welcher Stimme sollte ich denn sonst sprechen, kleine Freundin?«
    Ein dunkler Schatten schob sich in Khiras Sichtfeld. All die Jahre hatten ihn nicht im Mindesten verändert. Dalius Laertes hatte die Gestalt eines Skeletts, das jemand gnädig mit Haut umhüllt hatte. Ein schlankeres Wesen hatte Khira Stolt nie mehr getroffen. Niemand hätte sich sehr gewundert, wenn der geringste Windhauch ihn fortwehen würde. Doch in Dalius wohnte die übernatürliche Kraft und Zähigkeit, die den Nachtgeschöpfen eigen war. Dalius Laertes war ein Vampir. Und er hatte zu denen gehört, die Khiras Familie und ihre Nachbarn zu ihren Sklaven machten.
    Khira spürte den Stich in ihrem Herzen. Sie hätte ihn zutiefst hassen müssen, so wie all die anderen Vampire.
    Und doch liebte sie ihn wie einen großen Bruder, der ihr immer Schutz gewährt hatte…
    ***
    Finnland - 1977
    ... zitternd versteckte sich das Kind hinter dem Rücken seines Großvaters.
    Sie kamen schnell näher, und der Großvater würde ihr nicht helfen können. Das wusste die Kleine nur zu gut. Es gab ja nur einen, der sie beschützte, doch der war nicht hier. Verzweifelt suchten ihre Blicke die Halle ab, doch er war nirgendwo zu sehen. Vielleicht war er überhaupt nicht auf dem Hof.
    Sie wollten ihr wieder weh tun. Der andere war so böse und wenn ihr Freund nicht hier war, dann ließ er sie immer zu sich holen.
    Sie wollte das nicht mehr.
    Einer der Bösen stand plötzlich wie aus dem Nichts gekommen direkt vor dem alten Mann, der stoisch und unbeweglich den Weg zu seiner Enkelin versperrte. Ein Schlag ließ ihn zu
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