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077 - Das Kollektiv

077 - Das Kollektiv

Titel: 077 - Das Kollektiv
Autoren: Stephanie Seidel
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Boot, und alle Menschen darin. Einschließlich Gjöör'gi. Mehrere Herzschläge lang hielt sich das Tier hoch aufgerichtet, pendelte der schreckliche Kopf wie eine Königskobra als schwarze Silhouette vor der Sonne. Das Wasser troff in Strömen aus dem Maul; bucklige Hornschuppen waren zu erkennen und lange Barteln, die nach allen Seiten abstanden und sich bewegten.
    Jählings ließ sich das Tier nach vorne fallen, krachte auf die Wellen wie ein balzender Waal und versank.
    Nur ein dünner schwarzer Körperstreifen war noch zu sehen, der dem goldenen Widerschein auf dem Wasser folgte und rasend schnell näher kam.
    Panik brach aus unter den Männern.
    In Todesangst kletterten sie schreiend über Ruderbänke und herum liegende Gerätschaften und suchten verzweifelt den trügerischen Schutz der anderen Bootsseite zu erreichen. Stürze waren das Ergebnis, schwer und von blutenden Wunden begleitet.
    Yu'uris Blick streifte den Tumult an Bord seines Bootes und blieb an einer Stelle vor dem Mast hängen, wo sich ein unwirklicher Ort der Ruhe gebildet hatte. Klein und verletzlich stand Gjöör'gi da, das Kinn hochgereckt und tapfer bemüht, seiner Rolle als Sohn des Anführers wenigstens am Ende noch gerecht zu werden.
    Eine Zornesader schwoll auf Yu'uris Stirn. Nein, wir werden nicht sterben , entschied er grimmig, wirbelte herum, zeigte auf Ushaar - - und plötzlich stand die Zeit still.
    Scheinlaute umfingen Yu'uri; wie das Echo, das man zu hören glaubt, wenn ein anhaltendes Hintergrundgeräusch schlagartig verstummt, und er hatte das seltsame Gefühl, es schaue außer ihm noch ein Fremder durch seine Augen. An den Rändern dessen, was er sah, hatte sich ein schwaches grünes Leuchten gebildet, und Yu'uri blinzelte heftig, um es loszuwerden.
    Dann kamen die Stimmen.
    Es war, als berste eine Wand in seinem Inneren. Gedanken fluteten herein; kaskadengleich, von Angst und Hilflosigkeit geprägt und beinahe schmerzhaft in ihrer Intensität.
    Yu'uri duckte sich unwillkürlich.
    Heilige Macht im See - rette uns! , hörte er einen der Fischer beten; laut und deutlich, obwohl der Mann mit dem Gesicht zur Reling stand. Gleichzeitig jammerte eine Kinderstimme in seinem Kopf: Ich will zu meiner mushkaa , während Ushaar nur zornig fragte: Warum unternimmt er nichts ? Er könnte mir doch wenigstens befehlen, das Boot in den Wind zustellen!
    Stell das Boot in den Wind! , dachte Yu'uri automatisch und prallte zurück, als seine Leute wie auf Kommando zu ihm aufschauten.
    »Was geschieht hier?«, hauchte einer der Männer mit blassem Gesicht.
    »Wieso können wir dich hören, ohne dass du sprichst?«
    Ratlos wandte sich Yu'uri an Ushaar, der ihm den Rücken zudrehte und mit aller Kraft am Ruder zog. Das sollten wir später besprechen , dachte der Steuermann, und die Fischer nickten zustimmend.
    Erschrocken und fasziniert zugleich erkannte ihr Anführer, dass eine seltsame, unerklärliche Verbindung zwischen ihnen entstanden war, die von ihm auszugehen schien und alle Gedanken irgendwie… in Einklang brachte.
    Yu'uri warf einen Blick aufs Meer - und riss im nächsten Moment reflexartig zwei schützende Hände vor die Hautlappen, die seine Ohröffnungen nicht schnell genug verschließen wollten.
    Die Mannschaft hatte laut aufgeschrien, als er gewahr wurde, dass der schwarze Streifen keine zehn Bootslängen mehr entfernt war.
    Mit verzerrtem Gesicht ließ Yu'uri die Hände sinken und nahm den Blick vom Meer. Offenbar hörten die Fischer nicht nur seine Gedanken, sie sahen auch alles, was er sah. Yu'uri riss sich zusammen - Ushaar war schon dabei, den Kurs zu korrigieren. Hastig wies er auf Tjomkiin und Le'ev.
    »Ihr müsst das Netz…«, begann er und sah sich um, während er fieberhaft nach einer möglichst kurzen Erklärung suchte. Das Monster war keine zehn Bootslängen entfernt - jeder Augenblick zählte. Als er die Worte endlich formuliert hatte, brauchte er sie nicht mehr auszusprechen: Seine Männer handelten bereits. Mit vereinten Kräften zerrten sie das Netz an Deck und nach Backbord. Letzteres verblüffte Yu'uri noch mehr, denn der Gedanke, das Boot über links zu drehen statt nach Steuerbord, war ihm gerade erst gekommen, nachdem er die Verteilung an den Rudern gesehen hatte. Irgendwie hatte es sich ergeben, dass die stärkeren Männer auf der rechten Seite saßen.
    Yu'uri sprang von seinem erhöhten Platz am Bug herunter.
    Keine Zeit, verblüfft zu sein.
    Acht Bootslängen noch.
    Sicheren Schrittes lief er das Deck entlang.
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