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0695 - Blut an bleichen Lippen

0695 - Blut an bleichen Lippen

Titel: 0695 - Blut an bleichen Lippen
Autoren: Jason Dark
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furchtbar, er hatte auch den zweiten Kerl für einen Moment zur Bewegungslosigkeit verdammt, und diese Spanne wiederum nutzte Lilian aus. Sie warf sich nach rechts. Dabei hatte sie sich sehr viel Schwung gegeben, weil sie schon beim ersten Versuch über die Reling kippen wollte.
    Das Boot schwankte durch die plötzliche Gewichtsverlagerung, es drohte zu kentern, doch zuvor hatte es Lilian bereits verlassen. Der Mann hinter ihr schnappte zu, wollte sie halten, aber seine Finger rutschten an ihrem Bein ab.
    Dann war sie weg. Sie schluckte Wasser. Es lockte sie, es schien sie erwartet zu haben, denn sie spürte nicht einmal Scheu vor dieser wogenden grünen Flut.
    Sie tauchte unter.
    Dabei blähte sich ihr Kleid noch einmal auf und gab ihr das Aussehen eines wunderschönen Engels, der langsam seinem Tod entgegenwebte.
    Der Bärtige rieb seine Augen. Sie schmerzten, Tränen rannen aus ihnen hervor. Er konnte noch nichts sehen.
    Der zweite Mann hatte sich über den Rand gebeugt. Noch immer schaukelte das Boot, und es würde sich auch so leicht nicht fangen, aber das interessierte den Kerl nicht.
    Er blickte dem Körper nach, der immer tiefer sank, dem Grund des kleinen Sees entgegen.
    Das Kleid blieb aufgepumpt. Es wirkte plötzlich wie ein Totenhemd, das die Gestalt verdecken sollte, es aber nicht so recht schaffte, weil die dunkelgrüne Farbe des Wassers stärker war und so wirkte wie ein riesiger Sarg aus Glas.
    Lilian verschwand vor den Augen der beiden Männer…
    »O verdammt!« flüsterte der Typ mit den blonden Haaren und fügte noch mehrere Flüche hinzu.
    »Das ist…«
    »Meine Augen, Mann.«
    »Scheiß auf deine Augen!«
    Der Bärtige hob den Kopf. Noch immer rannen Tränen an den Wangen entlang. Er wischte sie ab, und sie hatten sich längst mit dem Wasser vermischt.
    »Sie ist weg, hörst du?«
    »Ja, verdammt!«
    »Sie ist auch nicht wieder aufgetaucht!«
    »Na und?«
    »Sie ist ertrunken!« schrie der Blonde. »Sie ist ertrunken. Und wir sind schuld.«
    Der Verletzte schüttelte den Kopf.
    Er ließ seine Hände nach unten sinken, schluckte und zwinkerte mit den Augen. Er konnte wieder etwas erkennen, auch wenn die Welt durch einen Nebelschleier verzerrt war. »Die wird ans Ufer schwimmen.«
    Der andere lachte. »Was ist denn, wenn sie nicht schwimmen kann?«
    »Jeder kann schwimmen.«
    »Bist du sicher?«
    »Klar.«
    Der Blonde schaute auf seine rechte Hand. Er hielt noch immer den Stoffetzen aus dem Kleid fest.
    Mit einer wütenden Bewegung schleuderte er ihn ins Wasser.
    »Wir müssen zurück, Calvin.«
    Calvin war der Mann mit dem Bart. »Ich rudere nicht. Mach du das. Du wirst sehen. Wenn wir am Ufer sind, ist sie schon längst dort. Das schwöre ich.«
    »Was geschieht dann?«
    »Weiß ich doch nicht.«
    »Die wird Hilfe holen.«
    Calvin nickte. »Kann sein. Deshalb solltest du dich auch in die Riemen legen.«
    »Scheiße, Mann!« Es blieb dem Knaben nichts anderes übrig, als die Ruder zu packen.
    Er drehte noch auf der Seemitte, so daß der Bug des Bootes in Richtung Ufer wies. Natürlich interessierte sich der Ruderer nicht nur für seine Arbeit, er ließ auch seine Blicke über die Wasserfläche gleiten, weil er noch immer daran glaubte, daß Lilian Demarest irgendwann wieder auftauchen würde.
    Vielleicht schwamm sie auch unter Wasser weiter. Es gab ja Menschen, die lange die Luft anhalten und dementsprechend gut tauchen konnten.
    Der kleine See hatte sie geschluckt. Das Reich der Legenden und Märchen, bevölkert von Seeschlangen, Nixen und Wassermonstern.
    Das gefiel Joey überhaupt nicht. Seine Mutter hatte ihn auf den Namen Joseph getauft, ein heiliger Name, aber damit hatte der Blonde nichts im Sinn. Kirchen kannte er nur von außen. Das heißt, einmal hatte er einer einen Besuch abgestattet - um sie auszurauben.
    An diesem Abend jedoch dachte er anders darüber. Da wünschte er sich den Schutz der Kirche und der Heiligen. Da dachte er plötzlich an seinen eigentlichen Namen und nicht an den, mit dem er gerufen wurde - an Joey.
    Die Strecke kam ihm weit vor, viel zu weit. Unsichtbare Hände schienen unter Wasser über den Kiel des Kahnes hinwegzustreichen und ihn in eine andere Richtung zu drücken. Als wäre dort jemand in der Tiefe verborgen, der nicht wollte, daß sie das Ufer erreichten.
    Sein Magen drückte, er pumpte sich auf. Calvin hockte ihm gegenüber und rieb auch jetzt über seine Augen. Der Himmel über ihnen nahm an Dunkelheit zu. Er bekam eine bleigraue Farbe, die sich immer
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