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06 - Ein echter Snob

06 - Ein echter Snob

Titel: 06 - Ein echter Snob
Autoren: Marion Chesney
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Verwalters, zog die Lampe näher zu sich heran und begann zu
lesen.
    Jenny betrachtete ihn. Er sah sehr
gut aus. Wie schade, dass er ein so flegelhafter, gefühlloser Mensch war. Sie
wartete und wartete und gähnte dabei in einem fort. »Sie könnten mir
wenigstens sagen«, meinte sie schließlich, »ob Ihr Verwalter ein ehrlicher Mann
ist.«
    »Alles andere als ehrlich«, sagte
er. »Die Diener in der Clarges Street müssen sich auf irgendeine andere Weise
durchs Leben geschlagen haben, sonst wären sie mittlerweile nur noch Haut und
Knochen, wenn man bedenkt, wie wenig er ihnen gezahlt hat. Aber warum hat mir
Rainbird das nicht selbst gesagt? Warum ist er damit an die Öffentlichkeit
gegangen?«
    »Rainbird, der Butler? Was wollen
Sie damit sagen?«
    »Ich bin heute abend mit Lady
Bellisle im Spa-Theater in Islington gewesen. Zu meinem größten Erstaunen ist
mein Butler dort als Harlekin aufgetreten. In einer Pantomine hat er die Rolle
von Palmer übernommen und versucht, die Bücher vor seinem Herrn zu verbergen.
Deshalb bin ich geradewegs hierhergekommen, als die Vorstellung vorbei war.«
    »Wollen Sie Lady Bellisle heiraten?«
fragte Jenny.
    »Miss Sutherland! Wir sind mitten in
der Nacht in ein Londoner Kontor eingebrochen. Sie sind ohne Begleitung hier.
Und doch finden Sie die Zeit, mir nebensächliche Fragen zu stellen, um Ihre
müßige Neugierde zu befriedigen!«
    Jenny errötete und schaute weg. Ihre
Augen fielen auf ein loses Brett in der Ecke. Sie erhob sich.
    »Wohin gehen Sie?« fragte der
Herzog.
    »Da ist ein loses Brett im
Fußboden«, sagte Jenny. »Vielleicht hat Palmer ganze Säcke voll Gold darunter
versteckt.«
    »Wenn ihr Damen aufhören würdet,
euch die Köpfe von Mrs. Radcliffes Romanzen verdrehen zu lassen, wäre es
vielleicht... Lassen Sie das Brett in Frieden. Es ist ein loses Brett, weiter
nichts.«
    Aber Jenny hatte es bereits an einem
Ende angefasst und hochgehoben.
    Dann beugte sie sich hinunter, zog
einen waschledernen Beutel heraus und öffnete ihn.
    »Ha!« rief sie triumphierend. »Ihr
ganzes Geld. Wenn Sie sich den Kopf ein bisschen verdrehen ließen, Euer Gnaden,
wären Sie vielleicht nicht so verbohrt und engstirnig.«
    Der Herzog ging zu ihr hinüber,
kniete sich auf den Boden und begann, einen Beutel Gold nach dem anderen
herauszuziehen.
    »Entschuldigen Sie sich!« rief
Jenny.
    Er kniete und betrachtete stumm das
Gold.
    »Entschuldigen Sie sich«, sagte
Jenny noch einmal und rüttelte ihn an den Schultern.
    Er drehte sich um und schaute zu ihr
auf. In ihren Augen stand ein spöttisches Lachen, das Tuch war ihr von der
Schulter gerutscht, und als sie sich über ihn beugte, konnte er die Wölbung
ihrer Brüste erkennen, die der tiefe Ausschnitt ihres Kleides enthüllte.
    Er schaute sie an, seine Augen waren
plötzlich ernst und angespannt. Ein ungeheurer Donnerschlag ging über ihren
Köpfen nieder.
    Er langte hinauf, nahm sie bei den
Schultern und zog sie zu sich herunter, bis sie vor ihm kniete.
    »Ich bin sehr dumm«, sagte er. »Mir
entgeht immer das, was sich unter meinen Augen abspielt.«
    »Sie meinen Palmer?« fragte Jenny
mit großen Augen. »Nein«, sagte er weich. »Ich meine Sie.«
    Seine Hände glitten zu ihrer Taille
herab. »Jenny«, sagte er liebevoll.
    »0 nein«, sagte Jenny. »Nicht Sie.
Ausgerechnet Sie.«
    Er verzog das Gesicht. »Und was
meinen Sie damit?«
    »Ich dachte, Sie wären zu förmlich
und altmodisch, um meine Lage auszunutzen. Ich weiß, dass ich mich heute abend
schändlich benommen habe, aber das heißt nicht, dass meine Moral auch nur die
geringste Einbuße erlitten hat.«
    »Hören Sie auf zu reden. Ich will
Sie küssen.«
    »Sie können mich nicht küssen. Sie
haben Tante Letitia nicht gefragt, ob Sie mir den Hof machen dürfen.«
    »Ich habe doch gar nicht gesagt, dass
ich Sie heiraten will, ich will Sie nur küssen.«
    »Sie können mich aber nicht küssen,
wenn Sie mich nicht heiraten wollen, und ich will Sie nicht heiraten.«
    Die Tatsache, dass ihn Lady Bellisle
nicht hatte heiraten wollen, hatte seinen Stolz verletzt und ihn verärgert,
aber mehr nicht. Doch Jennys Erklärung, dass sie ihn nicht heiraten wolle, traf
ihn mitten ins Herz. Er schaute Jenny mit wachsender Verwunderung an —
Verwunderung darüber, dass das kleine, freche Ding bereits eine solche Macht
über ihn ausübte, dass es ihm einen derartigen Schmerz zufügen konnte.
    Ihm fiel nur eine Möglichkeit ein,
diesen Schmerz zu lindern, nämlich sie zu küssen.
    Und so
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