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04 - Winnetou IV

04 - Winnetou IV

Titel: 04 - Winnetou IV
Autoren: Karl May
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Gedanke, es nur mit einem Zufall zu tun zu haben, vollständig ausgeschlossen wurde.
    Ich habe hier in Dresden einen Freund, der ein viel in Anspruch genommener Arzt und Psychiater ist. Besonders auf dem letzteren Gebiet hat er ganz bedeutende Erfolge errungen. Er wird da als Autorität bezeichnet und von Fremden nicht weniger als von Einheimischen zu Rate gezogen. Dresden ist bekanntlich eine vielbesuchte Fremdenstadt.
    Bei einem Besuch, den dieser Freund uns machte, nicht etwa sonntags, wo er frei war, sondern mitten in der Woche, und zwar abends spät, also zu einer Zeit, in der wir noch niemals von ihm aufgesucht worden waren, kam die Rede auf unsern Entschluß, mit dem Norddeutschen Lloyd nach New York zu fahren.
    „Etwa um Nuggets zu holen?“ fragte er so schnell, als ob er nur auf diese unsere Mitteilung gewartet hätte.
    „Wie kommen Sie grad auf Nuggets?“ antwortete ich.
    „Weil ich heut eines gesehen habe. Es war so groß wie ein Taubenei und wurde, als Berlocke gefaßt, an der Uhrkette getragen“, antwortete er.
    „Von wem?“
    „Von einem Amerikaner, der mir übrigens noch viel interessanter war, als dieses sein Klümpchen Gold. Er sagte mir, er sei nur für zwei Tage hier, und erbat sich mein Gutachten in einer Angelegenheit, die für jeden Psychologen, also auch für Sie, mein lieber Freund, ein ‚Fall‘ allerersten Ranges ist.“
    „Wieso?“
    „Es handelte sich um den in einer Familie sich vererbenden Zwang zum Selbstmord, einen Zwang, der unbedingt sämtliche Glieder der Familie ergreift, ohne auch nur ein einziges zu verschonen und bei dem einzelnen ganz leise, leise beginnt, um nach und nach an Stärke zu wachsen, bis er unwiderstehlich wird.“
    „Ich hörte schon von solchen Fällen und lernte einen derart Belasteten sogar persönlich kennen. Es war noch dazu ein Schiffsarzt, mit dem ich von Suez nach Ceylon fuhr. Wir verbrachten eine ganze, helldunkle Sternennacht auf dem Oberdeck über psychologische Fragen. Da gewann er Vertrauen zu mir und teilte mir mit, was er sonst keinem sagte. Ein Bruder und eine Schwester hatten sich bereits das Leben genommen; der Vater ebenso. Die Mutter war vor Gram und Angst gestorben. Eine zweite Schwester schickte ihm jetzt, während seiner Auslandstour, Briefe nach, daß sie dem unglückseligen Drang unmöglich länger widerstehen könne, und er selbst war nur deshalb Arzt geworden, um, falls kein anderer helfen könne, vielleicht selbst den Weg der Rettung zu finden.“
    „Was ist aus ihm und seiner Schwester geworden?“
    „Das weiß ich nicht. Er versprach mir zu schreiben und mir seine heimatliche Adresse anzugeben, hat dies aber nicht getan. Er war Österreicher. Stand es mit diesem Amerikaner ebenso traurig?“
    „Ob mit ihm selbst, kann ich nicht sagen. Er nannte keine Namen, auch den seinigen nicht, und tat so, als ob er nur von Bekannten spreche, nicht aber von seiner eigenen Familie. Aber der Eindruck, den er auf mich machte, war ein solcher, daß ich ihn für persönlich beteiligt halte. Er hatte so unendlich traurige Augen. Er schien ein guter Mensch zu sein, und es tat mir wirklich aufrichtig leid, ihm keine sicher Hilfe in Aussicht stellen zu können.“
    „Aber doch wenigstens Trost?“
    „Ja, Rat und Trost. Aber denken Sie sich so eine Fülle von Unheil: Die Mutter hatte Gift genommen. Der Vater war spurlos verschwunden. Von fünf Kindern, die lauter Söhne waren, lebten nur noch zwei. Sie alle sind verheiratet gewesen, aber von ihren Frauen verlassen worden, weil bei ihren Kindern der Drang zum Selbstmord schon im Alter von neun oder zehn Jahren eingetreten ist und sich derart schnell entwickelt hat, daß nur ein einziges von ihnen das Alter von sechzehn Jahren erreichte.“
    „Sie sind also alle tot?“
    „Ja, alle. Nur die erwähnten beiden Brüder leben noch. Aber sie kämpfen mit dem Mordzwang Tag und Nacht, und ich glaube nicht, daß einer von ihnen so stark sein wird, diesen Dämon in sich zu besiegen.“
    „Schrecklich!“
    „Ja, schrecklich! Aber ebenso rätselhaft wie schrecklich! Dieser unglückselige Drang existiert nämlich nur erst in der zweiten Generation; vorher war er nicht vorhanden. Leider konnte mir nicht gesagt werden, bei wem er sich zuerst äußerte, ob bei der an Gift gestorbenen Mutter oder bei dem verschollenen Vater. Auch erfuhr ich nicht, ob diese Krankheit etwa seit irgendeinem Ereignis datiert, welches mit großen oder gar unheilvollen seelischen Erschütterungen verbunden war. Das würde doch
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