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020 - Die Blutgraefin

020 - Die Blutgraefin

Titel: 020 - Die Blutgraefin
Autoren: Hugh Walker
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Kopfverband hatte ich am Vormittag bereits abgenommen. Das Haar ließ sich so vollkommen darüberkämmen, dass man die Wunde gar nicht sah. Ich hatte nur manchmal stechende Schmerzen.
    »Ich komme mit«, erklärte sie schließlich.
    Ich schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Es genügt mir, wenn ich auf mich achten muss. Du wirst dich hier einschließen und warten. Ganz gleich, was geschieht. Und dann dafür sorgen, dass die Polizei verständigt wird.«
    Sie gab es auf, in mich zu dringen, als sie meine Entschlossenheit sah.
    An Schlaf war nicht zu denken. Wir lagen angekleidet auf einem knarrenden Doppelbett und schmiedeten Pläne. Wir würden noch in dieser Woche gemeinsam nach München fahren und versuchen, zusammenzuleben – vorerst wenigstens bis zum Ende der Ferien. Unsere Zärtlichkeiten waren ein wenig von der Anspannung getrübt. Gegen halb zwölf wurde Ornella schläfrig und konnte bald ihre Augen nicht mehr offen halten. Sie schlief gleich darauf ein.
    Auch von mir wich die Nervosität, je näher der Augenblick rückte. Es konnte nicht mehr lange dauern.
    Es war ruhig bis auf Ornellas regelmäßige Atemzüge. Eine Schläfrigkeit kam über mich. Ich bemühte mich, dagegen anzukämpfen, aber es war plötzlich eisig kalt im Raum, und der Schlaf war wie eine warme Höhle, in deren Geborgenheit ich hinabsank.
     

     
    Ich wachte auf. Ich lag in vollkommener Dunkelheit. Ein paar Sekunden vergingen, ehe ich mich erinnerte. Dann erkannte ich auch, was mich geweckt hatte: das Fehlen eines Geräusches, die atemlose Stille des Raumes.
    Ich griff neben mich. Das Bett war leer. Das Mädchen war verschwunden!
    »Ornella!« Ich sprang auf, stolperte über einen Stuhl in der Finsternis und hastete zur Tür. »Ornella?«
    Keine Antwort.
    Mit fliegenden Fingern tastete ich nach dem Lichtschalter.
    Wer hatte das verdammte Ding abgedreht? Endlich! Der funkelnde Schein des altmodischen Kristalllüsters erhellte ein leeres Zimmer. Wie lange lag ich schon allein?
    Die Toilette, dachte ich. Sie muss auf die Toilette gegangen sein. Ich stürzte in den Korridor. Die Toilette war leer. Zurück.
    Ins Zimmer zurückgekehrt, sah ich, dass ihre Tasche fehlte. Sie hatte alles mitgenommen. Aber warum? Wo war sie hin? Hatte sie Angst bekommen und war einfach fortgelaufen? Nein, das passte wahrhaftig nicht zu ihr.
    Angst würgte mich in der Kehle. Hatten diese Lockungen sie fortgetrieben? Ich fühlte, dass sie in Gefahr war, dass etwas Entsetzliches mit ihr geschah! O Gott, was tun …?
    In diesem Augenblick kam der erste qualvolle Schrei, und mir sträubten sich vor Entsetzen die Haare. Ich sprang zum Tisch, stopfte Zündhölzer und Messer in die Taschen und griff nach der Taschenlampe. Nur ein Gedanke jagte immer wieder durch meinen Schädel, als ich zur Tür eilte. Wenn es Ornella war …
    Ich riss die Tür auf. Eine Reihe kurzer, schriller Schreie, die in wimmernde Töne übergingen und schließlich abbrachen. Nein, versuchte ich mir gewaltsam einzureden, das ist nicht Ornellas Stimme …! Aber ich wusste, dass es kaum möglich war, eine Stimme in dieser Phase existenzerschütternder Ausbrüche zu erkennen.
    Undeutlich sah ich Madame Ferenczek vor mir auftauchen, ihr Gesicht war wie ein weißer Fleck in der Düsternis des Stiegenhauses.
    »Ornella ist verschwunden!« rief ich. Dann hastete ich die Treppen zum Keller hinab, stieß fluchend mit dem Kopf gegen die niedrigen Deckenbögen, stolperte in den schmalen Gang.
    Es kamen keine Schreie mehr, nur ein gequältes Wimmern, als wäre die Stimme unter einem Knebel erstickt. Es klang nach unbeschreiblicher Pein. Es trieb mich voran und ließ mich alle Furcht vergessen.
    Aber nicht alle Vorsicht. Ich verdeckte den Strahl der Taschenlampe zum Teil mit der Hand und schlich so leise es mir in meiner Hast möglich war.
    Das Wimmern brach nicht ab – es war ein steter Fluss von Qual, und es war, als nähmen es diese Mauern mit einem Seufzen auf.
    Plötzlich war es ganz nahe. Ich sah flackerndes Licht vor mir und schaltete meine Lampe aus. Vor mir musste der Raum liegen, in dem ich gestern die blutigen Ketten gefunden hatte.
    Auf Zehenspitzen schlich ich mich heran.
    Einen Augenblick starrte ich geblendet in den Raum. Eine große Zahl von Kerzen brannte, und ihr zuckendes Licht schien die sich windende Gestalt eines nackten Mädchens zu verhöhnen, das hilflos in den Ketten hing. Ströme von Blut hatten ihre weiße Haut mit dicken roten Strichen bedeckt.
    »Aufhören!« brüllte ich, erfüllt
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