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Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)

Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)

Titel: Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
Autoren: Erin Kellison
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Leben lang war er an ihrer Seite gewesen und hatte über ihre Träume gewacht.
    Ihr Schattenmann.
    »Kathleen, Liebes, geh zurück«, bat er eindringlich.
    »Aber ich fühle mich gut. Ich will spielen!«
    Hinter ihm gerieten die Schatten in Bewegung und wirbelten stürmisch umeinander. Sein dunkler Umhang bebte und riss. Schwarze Schattenbahnen rankten sich um seine Glieder, ein besonders dunkler Strang wickelte sich um seinen Hals.
    »Kathleen, du musst jetzt zurückgehen«, sagte er. »Ich kann die Schatten nicht mehr lange von dir fernhalten.«
    »Aber es ist so schön hier.«
    Der wachsende Sturm ließ die Bäume erzittern. Flüstern erfüllte den Wald. Zwischen den Stämmen huschte etwas Glitzerndes umher. Feen.
    »Das ist eine Lüge, um dich auszutricksen und vor der Zeit zu holen«, erklärte er. »Wach auf!« Die Schatten bauschten sich auf, doch der Schattenmann hielt sie mit ausgestreckten Armen zurück. Mit einer Hand griff er einen langen Schaft mit einer gebogenen Klinge, die in dem farbigen Licht glänzte. Eine Sense.
    Der Tod.
    Oh, Gott! Das Baby!
    Verzweifelt sah sich Kathleen nach den Bergen, den Felsen und ihren Eltern um. Doch sie trug ein Krankenhausnachthemd und stand mit nackten Füßen auf der samtenen Erde.
    Die Bäume um sie herum gewannen an Umfang, die Zweige verbanden sich zu einem festen, undurchdringlichen Dach. Ihr berauschender Geruch lullte ihren Verstand ein. Wohin?
    »Lauf!«, schrie der Schattenmann mit vor Anstrengung angespannter Stimme.
    Kathleen rannte los, doch die eisige Dunkelheit schnappte nach ihren Fersen und den nackten Beinen. Und überall drängten sich Bäume aneinander und versperrten ihr den Weg.
    Zu früh! Bevor das Schattenreich sie holte, musste sie erst ihr Baby zur Welt bringen. Sie musste in ihr Leben zurückfinden. Nur für einen kurzen Augenblick.
    »Maggie!«, schrie sie.
    »Ich bin da«, sagte Maggie. »Ich habe es versprochen. Ich lasse das Baby nicht im Stich.«
    Ein heftiger Druck legte sich schwer auf Kathleens Brust. Sie gierte nach Luft, schaffte es jedoch nicht zu atmen. Ihr Herz hämmerte. Egal, wie sehr sie sich zur Ruhe zwang, es ließ sich nicht kontrollieren.
    Im Zimmer herrschte Aufregung. Schwestern und Ärzte wirbelten um sie herum. Zu ihrer Rechten blitzten Maggies rote Haare auf. Cotter, der junge Arzt, stand mit einer grünen Maske vor dem Gesicht und Gummihandschuhen an den Händen einsatzbereit neben ihr. Ein fremder Mann rollte ein neues Gerät neben ihr Bett und zupfte an ihrer Infusion.
    » … akutes Lungenödem … «
    Sie lag flach auf dem Rücken. Etwas schmerzte, brannte. »Das Baby«, krächzte sie mit heiserer Stimme. Das Baby!
    » … kongestive Herzinsuffizienz … «
    »Dieses Baby hatte von vornherein keine Chance auf eine normale Schwangerschaft«, sagte eine Schwester. »Jemand mit ihrer Krankheit hätte gar nicht erst schwanger werden dürfen.«
    »Halten Sie den Mund«, zischte Maggie. »Sie haben ja keine Ahnung.«
    Während um sie herum ein dichter Wald wuchs, verschärfte sich Kathleens Blick. Da sie bald die Grenze überschreiten würde, folgten die Zwielichtlande ihr in diese Welt. Bäume, die nur sie sehen konnte, ragten zur Decke des Krankenzimmers auf. Der Geruch von Holz stieg ihr in die Nase, und das aufgeregte Flüstern sanfter Feenstimmen drang an ihr Ohr. Sie befand sich an einem magischen Ort voller Träume, Fantasie und böser Geister. Den Schatten entkam niemand, jedenfalls nicht lange. Selbst wenn der Schattenmann die Dunkelheit zurückhielt, musste jeder irgendwann die Reise durch den dunklen Tunnel aus Bäumen antreten.
    Ihr gesamtes Leben hatte sie an dieser Schwelle gestanden.
    »Kathleen«, raunte der Schattenmann in ihr Ohr. Natürlich war er bei ihr.
    »Noch nicht«, bat Kathleen tonlos. Ihr Herz versagte, Flüssigkeit drang in ihre Lungen. »Bitte.«
    Mit bleichem, rotgeflecktem Gesicht beugte sich Maggie über sie: »Liebes, es ist Zeit. Das Baby muss jetzt geholt werden. Bleib bei mir, okay? Ich brauche dich, Schwester.«
    Sie verschwand aus ihrem Blickfeld, weil der Arzt etwas auf ihren gewölbten Bauch strich. Je deutlicher sie die Farben der Zwielichtlande erkannte – tiefes Zinnoberrot, berauschendes Magenta, intensives Indigo – , desto stärker verschwamm die Welt vor ihren Augen. Ihre Ohren rauschten. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Durch eine beängstigende elektrische Spaltung wurde ihre Empfindung dumpf und verstärkte sich zugleich. Etwas hatte sich verändert.
    Sie war nicht an
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