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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort
Autoren: Lutz van Dijk
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Arbeiter es meinten. War es nicht auch für sie gefährlich, so zu reden?
    Â»Mir sin erscht emol Frankforder, gelle?«, fuhr der ältere Arbeiter fort und schaute seine Kollegen direkt an. Jetzt nickten alle. Langsam begann Mutter, ihnen zu vertrauen.
    Sie arbeiteten einige Wochen am Ausbau des Luftschutzkellers. Uns allen tat es gut, auch einmal solche deutschen Christen zu erleben, die nicht nur Hitler anhimmelten, sondern eine eigene Meinung zeigten. Auch sie gewöhnten sich an uns. Am Ende reparierten sie für Onkel Isidor noch ein paar Fensterrahmen im Dachgeschoss und für Mutter eine Wasserleitung in der Küche. Als sie dafür ihren Lohn bekommen sollten, lehnten sie
freundlich ab: »Naa, des iss Ehresach! Mir habbe Ihne schon genuch Dreck gemacht.«
    Â»Wollen Sie nicht noch wenigstens einen Kaffee?«, fragte Mutter am letzten Tag.
    Â»Abbä mit Sahn’!«, antworteten sie im Chor und auch Mutter musste lachen. Später hörte ich sie zu Hanna sagen: »Es ist ein Wunder, dass die auch untereinander so gut dichtgehalten haben. Wenn nur einer von denen eine Anzeige gemacht hätte wegen Beleidigung des Führers... nicht auszudenken!«
    Â 
    Inzwischen war es für keine von uns mehr eine Frage, dass wir Deutschland verlassen mussten. Tante Ella hatte als junge Frau selbst einige Jahre in Jerusalem gewohnt und schwärmte uns regelmäßig von unserem zukünftigen Leben in Palästina vor. »Das Wichtigste ist, dass ihr gut Englisch lernt!«, ermahnte sie uns immer wieder. Die Frage war nur: Wer von uns würde in der nächsten Kindergruppe mitreisen können? Alles ging so langsam. Zu langsam. Ein paar hatten Glück und konnten noch Verwandte in den USA oder in England auftreiben, die für sie bürgten und die Reisekosten dorthin übernahmen. Aber die meisten hatten ja nicht einmal mehr ihre Eltern. Öfter saßen wir abends zusammen im Zimmer und drehten ein Messer im Kreis. Diejenige, auf die die Spitze zeigte, wenn es stehen blieb, würde als Nächste abhauen können, stellten wir uns vor.
    Aber dann kam plötzlich alles ganz anders. Es begann mit einem Schock. Ende Oktober 1938 riss uns Tante Ella eines Morgens in aller Herrgottsfrühe aus dem Schlaf und sagte mit ernstem Gesicht: »Alle ausländischen
Kinder: schnell aufstehen und anziehen! Ihr werdet abgeholt!« So wie sie schaute, bedeutete es nichts Gutes, sicher nicht die erhoffte Auswanderung nach Palästina.
    Â»Wohin sollen wir denn?«, fragte ich, noch immer halb verschlafen. Aber da hatte sie offensichtlich schon genauere Informationen und rief in das Zimmer, in dem Hanna und ich schliefen: »Ihr Levitus-Mädchen könnt hier bleiben. Ihr seid ja Tschechen, nur die polnischen Kinder sollen zurück nach Polen.«
    Niemand verstand, warum. Die Kleinsten begannen zu weinen. Viele waren ja gerade aus Polen weggegangen, weil es ihren Familien dort nicht gut ergangen war. Alles geschah in großer Eile. Noch vor dem Frühstück waren alle polnischen Mädchen und Jungen unten im Hof versammelt und wurden von da unter der Aufsicht einiger Polizisten zum Bahnhof gebracht. Ich lief verzweifelt durch unser Zimmer, in dem nun mehrere Betten leer standen. Sie fühlten sich noch warm an von den Kindern, die bis eben noch darin geschlafen hatten. Auf den kleinen Hockern, die am Fußende von jedem Bett standen und auf die wir vorm Schlafengehen unsere Sachen legten, hatten einige in der Eile sogar einzelne Kleidungsstücke vergessen. Ein Strumpf... ein Hemdchen... ein Taschentuch. Das Tuch nahm ich an mich, weil es meiner Freundin Edith gehörte. Nach einer Weile war es nass von meinen Tränen.
    Als Tante Ella vom Hof zu uns zurückkam, sagte sie bitter: »Wie kann man Kinder nur so behandeln? Was können sie schon dafür, wo sie geboren wurden!« Erst später begriff ich, was der politische Hintergrund dieser
ersten Deportation jüdischer Menschen aus Deutschland war. 3
    Auch Onkel Isidor und Tante Rosa waren von dieser Aktion offenbar völlig überrascht. Sie riefen das gesamte Personal zusammen, um zu beraten, was getan werden solle. Und sie hatten eine gute Idee. Die Tochter des Heimleiters hatte eine Ausbildung als Krankenschwester gemacht. Sie zog nun ihre Schwestern-Uniform an und begab sich damit in Begleitung von Onkel Isidor zum Bahnhof. Sie würde dort behaupten, dass wir ein deutsch-jüdisches Waisenhaus und die
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