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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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Gläubigen durch apokalyptische Drohungen und schauderhafte Dies-irae -Töne nach sich. In der Folge wurden die altehrwürdigen Zorn-Gottes-Lehren und die Bilder des rächenden Weltgerichts am Ende der Zeiten innerkirchlich aus dem Verkehr gezogen – sie sind inzwischen zu Kuriositäten abgesunken, die man wie ein metaphysisches Horrorgenre genußvoll inspiziert, sofern man überhaupt noch daran Interesse findet.
    Was den Versuch des Kommunismus angeht, eine Weltsammelstelle für thymotische Energien mit global überzeugenden humanen Renditen zu schaffen, sind die Enttäuschung und Erbitterung bei den älteren Zeugen der Spukepoche noch zu nah, als daß man erklären müßte, warum jeder Gedanke an eine »verbesserte« Wiederaufnahme ähnlicher Experimente für sie puren Wahnwitz bedeutet. In den Augen der Nachgeborenen stellt das kommunistische Abenteuer schon heute ein düsteres Kuriosum dar, so gotisch wie die verschollene katholische Eschatologie.
    Von den Motiven, Verfahren und Versprechen der beiden großen Zornkollekten haben wir im zweiten und dritten Kapitel dieses Versuchs gehandelt. Über die Folgen ihrer Auflösung sprechen das erste, worin skizzenhaft auf das freie Flottieren der Rache in der beginnenden nachchristlichen Situation aufmerksam gemacht wird, und dieses vierte, das sein Augenmerk auf die politische Obdachlosigkeitdes Zorns in der post-kommunistischen Lage richtet. Dabei verfolgten wir nicht die Ambition, die möglichen und wirklichen Zusammenhänge zwischen dem Katholizismus und dem Kommunismus zu untersuchen – tatsächlich hätte es naheliegend scheinen können, den Kommunismus als Säkularisationsgestalt der christlichen Zorntheologie, sogar als materialistische Übersetzung der Reich-Gottes-Idee zu portraitieren. Begnügen wir uns deshalb mit der hier nicht weiter zu entwickelnden Bemerkung, daß dem Kommunismus tatsächlich in vielem die Merkmale eines zweiten Katholizismus eigen waren. Wenn im Jahr 1848 im Ton triumphaler Genugtuung behauptet wurde, ein Gespenst gehe um in Europa, das alle Regierungen zwischen Paris und St. Petersburg in Furcht und Schrecken versetze, zeugte diese Wendung für eine Situation nach dem »Tode Gottes«, in der auch die Funktion des Weltgerichts – neben zahlreichen anderen Ämtern Gottes – auf irdische Agenturen übergehen mußte. Nach Lage der Dinge kam für dieses Erbe bevorzugt der frühe Kommunismus in Frage. Der »gespenstische« Charakter dieser Bewegung, den Jacques Derrida in seinem mehrfach erwähnten Buch Marx’ Gespenster hervorkehrte, entsprang freilich nicht so sehr, wie Derrida suggeriert, der Tatsache, daß es sich beim Kommunismus um eine rationalistische Utopie handelte, mithin um ein Gedankending, das ohnedies nur im Modus des Spuks, nie als Figur aus Fleisch und Blut, aufzutreten vermag. Was den aufsteigenden Kommunismus von Anfang an spukgewaltig machte und ihm die Kraft verlieh, die paranoiden Reflexe seiner Gegner auf sich zu ziehen, war seine früh erkennbare Fähigkeit, den bestehenden Verhältnissen glaubhaft den Umsturz anzudrohen. Als er seine Drohkapazität verloren hatte, war er auch als Gespenst erledigt – und keine Animation auf philosophischen Kongressen wird dem hohlen Kürbis neue Spukkraft geben.
    Nach dem Sturz des Kommunismus mußte das Geschäftder weltgeschichtlichen Rache, allgemeiner gesprochen des universalen Leidensausgleichs, den menschlichen Agenturen wieder aus den Händen gleiten. Folglich gab es gute Gründe, weswegen die katholische Kirche sich als der wahre Postkommunismus, ja geradezu als die Seele eines authentischen und spirituellen Kommunismus in Szene setzen konnte – diese Gelegenheit zu erkennen war Karol Wojtylas theatralische Sendung. Die katholische Botschaft schließt freilich den Rückgang auf die klassische moralkonservative Haltung ein, nach welcher sich auch der Mensch der Gegenwart von Zorn und Revolte freimachen müsse, um wiederzufinden, was er im Gefolge der Ereignisse von 1789 verloren hatte: Geduld und Demut. Übersehen wird bei diesen Empfehlungen zumeist, daß die hochgelobten Tugenden auf schwachen Füßen stehen, wenn ihnen nicht die Drohgewalt einer glaubwürdig verkündbaren Theologie des Jüngsten Gerichts zu Hilfe kommt.
    Diese Hinweise legen die Einsicht nahe, wonach der Hegelschen Figur einer List der Vernunft eine gewisse Brauchbarkeit noch immer nicht abzusprechen ist, so asketisch die Erwartungen sein mögen, die man heute an Indizien für die Möglichkeit einer
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