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ZECKENALARM IM KARPFENLAND

ZECKENALARM IM KARPFENLAND

Titel: ZECKENALARM IM KARPFENLAND
Autoren: Werner Rosenzweig
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geräuschvoll in Kuno Seitz‘ Kehle. „Ich, … ich kann nicht mehr. Bin müde und … außerdem besoffen. Stockbesoffen! Ich leg mich hin.Muss schlafen … Bleib ruhig hier sitzen, … wenn du willst!“
    Es dauerte keine fünf Minuten. Der Obdachlose hatte sich wie ein Embryo in sich zusammengezogen und schnarchte laut vor sich hin. Till Stemmann saß immer noch regungslos neben ihm und blickte interessiert auf ihn herab. Dann sah er auf das Wasser des Kanals, auf dessen Oberfläche sich zwischenzeitlich kleine Wellen kräuselten. Leichter Westwind war aufgekommen. Aus weiter Ferne drang dumpfer Donner an sein Ohr. Blitze erhellten den weit entfernten Horizont für Sekundenbruchteile. Till Stemmann nahm die zweite, leere Wodkaflasche und warf sie angeekelt und achtlos in das Wasser. Er zählte die Ringe, die sich gleichmäßig auf der dunklen Wasseroberfläche ausbreiteten und gegen die aufkommenden Wellen ankämpften. Das Licht des Mondes brach sich in ihnen und ritt auf ihren kleinen Kämmen dahin. Dann begann er ganz leise vor sich hin zu singen. Die Melodie klang nach einem Kinderlied. Der Text war von einem Kinderlied allerdings so weit entfernt, wie der Mond von der Erde:
    à
Hört zu, ihr kleinen Zecken,
    Den Rotweinbruder sollt ihr stechen.
    Auch Schmarotzer ich nicht leiden kann,
    Drum kommt der Typ als nächster dran.
    Der Alte kommt dann ganz zum Schluss,
    Auf jeden Fall auch sterben muss.
    Die Süchtige sowieso verdirbt,
    An Lungenkrebs von selber stirbt.
    Als er die Strophe mit leisem Sprechgesang beendet hatte, begann er erneut von vorne. Dabei schaukelte er in der Hocke mit seinem Körper hin und her, die Arme um beide Beine geschlungen und sah auf das Wasser des Kanals. Der Donner wurde schnell lauter, die Blitze am Horizont wurden greller und kamen näher. Kuno Seitz bekam von alledem nichts mit. Er schnarchte. Plötzlich richtete sich Till Stemmann zu voller Größe auf, griff in seine Jackettasche und holte zwei winzige Glasbehälter daraus hervor. Er strahlte die beiden Gefäße mit einem Schlüssellochsucher an. In jedem der Gläser saß ein winziges, achtbeiniges Spinnentier, nicht größer als einen halben Zentimeter. Die Beine der Insekten waren im schwachen Licht auffallend rot-gelb geringelt. Hyalomma-Zecken! Der Hinterleib der Tiere war leer. Sie waren ausgehungert. Hungrig nach Blut. Nach frischem, warmen Blut. Vorsichtig nahm Stemmann eines der Gläser in die Hand und öffnete den Verschluss. Mit einem kleinen Holzspatel entließ er die Zecke zwischen Hals und Hemdkragen des schnarchenden Obdachlosen. Das Insekt nutze seine plötzliche Freiheit und verschwand sofort unter dem Hemd. Es spürte den warmen Körper von Bruno Seitz sofort, und es fühlte das Blut, das in ihm rauschte. Dann nahm der angebliche Till Stemmann das zweite Glas, öffnete es ebenfalls und schob das winzige Spinnentier in den offen stehenden Hosenstall des Schnarchenden. „Macht’s gut meine Lieben“, spornte er die längst verschwundenen Insekten an, „verrichtet eure Arbeit. Guten Appetit, und lasst es euch schmecken.“
    Es war Zeit, von Kuno Seitz Abschied zu nehmen. Abschied für immer. „Du bist kein schlechter Mensch. Leider stehst du mir im Weg. Mein Probe-Mord-Opfer bist du außerdem. Schade! Wir hätten tatsächlich Freunde werden können.“ Dann drehte er sich abrupt um, und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen, den er im Möhrendorfer Weg geparkt hatte. Als er in seinen Ford Focus einstieg, klatschten die ersten, dicken Regentropfen auf die Windschutzscheibe, und der Donner rollte mächtig laut über den naheliegenden Rhein-Main-Donaukanal. Heftiger Wind bog die stolzen Kronen der Lärchen hin und her und fuhr mit brutaler, entfesselter Gewalt in den bisher still daliegenden Wald, jenseits des Kanals. Till Stemmann startete den Motor und dachte an Kuno Seitz. Armer Schlucker! Dann erinnerte er sich seiner zwei kleinen, infizierten Lieblinge. Wenn sie sich mit genügend Blut vollgesogen hatten, ließen sie sich von ihrem Opfer abfallen. Das wusste er. Bis zu zehn Jahren konnten sie mit einer Nahrungsaufnahme überleben. Doch nicht hier, in Franken. Der erste leichte Frost würde sie dahinraffen. Ob sie es sich zwischenzeitlich bereits gemütlich gemacht hatten? Labten sie sich bereits an dem warmen Blut des bedauernswerten, naiven Opfers? Von wegen kirchliches Engagement! Was die Leute heutzutage alles glaubten. Er hatte keinerlei Empfindungen für den armen Teufel. Er wusste nur, dass dieser
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