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Wurzeln

Wurzeln

Titel: Wurzeln
Autoren: Alex Haley
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einem kleinen Ort namens Albreda anlangten. Dort landeten wir und gingen nun zu Fuß zu unserem Bestimmungsort, dem noch kleineren Dorf Juffure, wo dieser griot , wie man mir berichtet hatte, lebte.
    Es gibt einen Ausdruck für das, was in seiner Einzigartigkeit im ganzen Leben nicht wiederholbar ist – »das Gipfel-Erlebnis«. Für mich wurde es Wirklichkeit an diesem ersten Tag im Hinterland im schwarzen Westafrika.
    Als wir in Sichtweite von Juffure angekommen waren, schlugen die draußen spielenden Kinder Alarm, und die Leute strömten scharenweise aus ihren Hütten. Juffure ist ein Dorf mit höchstens siebzig Einwohnern. Wie die meisten dieser abgelegenen Orte befindet es sich noch fast im gleichen Zustand wie vor zweihundert Jahren, mit seinen runden Lehmhütten und den kegelförmigen Strohdächern. Unter den Menschen, die sich da versammelten, stand ein kleiner Mann in einem gelblichen Rock, über dem adlerartig geschnittenen Gesicht einen kastenförmigen Hut. Um sich verbreitete er die Aura einer bedeutenden Persönlichkeit, bis ich erkannte, daß genau er derjenige war, den zu sehen und zu hören wir überhaupt hierhergekommen waren.
    Als sich die drei Dolmetscher aus unserer Gruppe lösten und auf ihn zugingen, versammelten sich die anderen siebzig Dorfbewohner einer nach dem anderen um mich, bis sie mich, fast hufeisenförmig, in Reihen von dreien und vieren, umgaben. Ich hätte nur meine Arme auszustrecken brauchen, um mit meinen Fingern die nächsten auf jeder Seite zu berühren. Alle starrten mich an, ihre Augen durchbohrten mich förmlich. Die Stirn jedes einzelnen furchte sich, so eindringlich musterten sie mich. Eine tiefe innere Erregung erfaßte mich. Ich war verwirrt, und erst nach einer ganzen Weile traf mich die Erkenntnis: Nie und nirgends war ich unter Menschen gewesen, die so tiefschwarz waren.
    Äußerst bewegt schlug ich die Augen nieder, wie wir zu tun pflegen, wenn wir unsicher oder schuldbewußt sind, und mein Blick fiel auf meine eigenen Hände und nahm ihre Hautfarbe wahr: Es war wie ein Schock: Ich fühlte mich selbst – als eine Art Bastard … Ich fühlte mich irgendwie unrein – unter den Reinen. Es war ein zutiefst beschämendes Gefühl. Gerade in dem Augenblick beendete der alte Mann die Unterredung mit den Dolmetschern, und sofort ließen die Leute auch von mir ab, um sich jetzt um ihn zu scharen.
    Einer der Dolmetscher eilte zu mir und flüsterte mir ins Ohr: »Sie starren Sie so an, weil sie hier noch niemals einen schwarzen Amerikaner gesehen haben.«
    Als ich den Sinn dieser Worte begriff, erschütterte dies mich wohl noch mehr als das, was gerade eben geschehen war. Sie sahen mich also nicht als Individuum an, vielmehr verkörperte ich in ihren Augen wie ein Symbol jene 25 Millionen von uns schwarzen Menschen, die sie nie zuvor gesehen hatten, die jenseits des Meeres leben.
    Die Leute drängten sich enger um den alten Mann und warfen zwischendurch immer wieder rasche Blicke auf mich, während sie lebhaft in ihrer Mandinka-Sprache miteinander redeten. Nach einiger Zeit wandte sich der alte Mann um und bahnte sich einen Weg durch die Menge, vorbei an meinen Dolmetschern, den Weg direkt zu mir hin. Seine Augen suchten die meinen, als wollte er mir bezeigen, ich müßte einfach seine Sprache verstehen. Dann drückte er das aus, was sie alle über diese nie gesehenen Millionen von uns denken mochten, die jetzt dort leben, wohin einst die Sklavenschiffe gefahren waren – und so lautete die Übersetzung: »Wir wissen von unseren Vorvätern, daß es viele aus dieser Gegend gibt, die jetzt im Exil in jenem Land leben, das Amerika genannt wird – und an anderen Orten.«
    Der alte Mann hockte sich nieder und schaute mich an, während sich die Leute schnell hinter ihm gruppierten. Dann fing er an, die uralte Geschichte des Clans der Kinte vorzutragen, so wie sie über die Jahrhunderte hinweg aus der Zeit der Ahnen mündlich bis zu ihm überliefert worden war. Es war kein Vortrag im unterhaltenden Sinne, sondern eher so, als werde von einer Schriftrolle abgelesen. Für die in Stillschweigen verharrenden Dorfbewohner war es sichtlich ein festliches Ereignis. Der griot beugte sich beim Sprechen weit vor, sein Körper war angespannt, und seine Worte schienen beinahe leibhaftig greifbar. Nach ein oder zwei Sätzen lehnte er sich leicht zurück und lauschte der Übersetzung eines der Dolmetscher. Aus dem Gedächtnis des griot erwuchs nun eine unglaublich weitverzweigte Ahnenreihe des
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