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Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Titel: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
Autoren: Haruki Murakami
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haben mir nie gelegen. Sportarten wie Tennis mit einem Gegner sind auch nicht mein Fall. Squash macht mir Spaß, aber gegen jemanden zu spielen – ob ich nun gewinne oder verliere – ist mir immer etwas unangenehm. Kampfsportarten kommen für mich ebenfalls nicht in Frage.
    Natürlich habe ich nichts dagegen zu gewinnen. Aber aus irgendeinem Grund hat es mir schon als Kind nie viel bedeutet, und auch als ich erwachsen wurde, hat sich daran im Wesentlichen nichts geändert. Gegen andere anzutreten bedeutet mir nicht viel. Weit mehr liegt mir daran, die Ziele zu erreichen, die ich mir selbst gesteckt habe, und daher ist der Langstreckenlauf die ideale Sportart für mich.
    Wer schon einmal einen ganzen Marathon gelaufen ist, wird mich verstehen. Für die meisten Läufer geht es nicht um die Frage, ob sie eine bestimmte Person besiegen. Natürlich ist es die Aufgabe eines Weltspitzenläufers, seine Rivalen zu überholen, aber für die Amateurläufer ist der individuelle Wettkampf kein großes Thema. Bestimmt gibt es darunter auch Menschen, die der Vorsatz, nicht gegen eine gewisse Person zu verlieren, zu härterem Training motiviert. Sollte der Rivale jedoch aus irgendeinem Grund nicht an dem Lauf teilnehmen können, ist ihnen damit (zumindest teilweise) der Wind aus den Segeln genommen, und sie werden nicht lange dabei bleiben.
    Die meisten durchschnittlichen Läufer werden von einem persönlichen Ziel angetrieben: Sie möchten eine bestimmte Zeit laufen. Wenn sie es schaffen, haben sie ihre persönliche Messlatte erreicht, wenn nicht, dann eben nicht. Auch wenn ein Läufer seinen eigenen Rekord nicht brechen kann, aber dennoch das Gefühl hat, sein Bestes gegeben zu haben, und dabei vielleicht sogar eine wichtige Erkenntnis über sich selbst gewonnen hat, ist dies eine Leistung, die er mit in seinen nächsten Lauf hinübernehmen kann. Mit anderen Worten, das Wichtigste für einen Langstreckenläufer ist es, nach dem Lauf stolz (oder etwas Ähnliches) auf sich zu sein.
    Das Gleiche kann ich über meine Arbeit sagen. Im Beruf des Schriftstellers gibt es – zumindest was mich betrifft – weder Sieg noch Niederlage. Verkaufszahlen, Literaturpreise oder Kritikerlob sind vielleicht äußere Zeichen des schriftstellerischen Erfolges, aber nichts davon zählt. Entscheidend ist nur, ob das Geschriebene das Ziel erreicht, das man sich als Autor gesetzt hat. Dieser Anspruch duldet keine Ausreden. Vielleicht kann man andere mit einer passenden Erklärung beschwichtigen, aber das eigene Herz lässt sich nicht betrügen. In dieser Hinsicht hat ein Roman eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Marathonlauf. Die Motivation eines Schriftstellers liegt in ihm selbst, und er sollte keine Bestätigung durch Äußerlichkeiten anstreben oder sich an äußeren Maßstäben messen.
    Für mich ist das Laufen körperliche Bewegung und Metapher zugleich. Durch tägliches Training und die Teilnahme an Läufen habe ich die Messlatte nach und nach immer ein Stückchen höher gelegt und mich dadurch selbst gesteigert. Zumindest habe ich mich jeden Tag darum bemüht. Natürlich bin ich kein überragender Läufer. Ich befinde mich auf einem sehr durchschnittlichen, mittelmäßigen Niveau. Aber das spielt überhaupt keine Rolle. Mir kommt es lediglich darauf an, ob ich besser war als gestern, mich selbst übertroffen habe. Der einzige Gegner, den es beim Langstreckenlauf zu überrunden gilt, ist die eigene frühere Person.
    Doch ab etwa Mitte vierzig hat sich mein System der Selbsteinschätzung allmählich verändert. Vereinfacht gesagt, ich konnte meine Zeiten nicht mehr verbessern. In Anbetracht meines Alters war dies wohl unvermeidlich; einmal ist jeder auf dem Höhepunkt seiner körperlichen Leistungsfähigkeit angelangt. Natürlich gibt es dabei individuelle Unterschiede, aber Schwimmer erreichen ihn meist mit Anfang zwanzig, Boxer mit Ende zwanzig und Baseballspieler mit Mitte dreißig. Nur dass man ihn unvermeidlich einmal überschreitet, ist allen gemeinsam. Als ich einmal einen Augenarzt fragte, ob es jemals einen Menschen gegeben habe, der im Alter nicht weitsichtig geworden sei, sah er mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank, und lachte. »Ich bin noch nie einem begegnet«, antwortete er. (Glücklicherweise sieht die Sache bei Künstlern ganz erheblich anders aus. So schrieb Dostojewski zwei seiner Hauptwerke – Die Dämonen und Die Brüder Karamasow – erst gegen Ende seines sechzigjährigen Lebens. Und Domenico Scarlatti
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