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Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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halbwacher Zustand, um die Zensur zu umgehen. Aus diesem Grund arbeiten viele kreative Menschen gern an den Rändern des Tages: wenn sie noch nicht oder nicht mehr richtig wach sind. Andere hören Musik. Und wieder andere gehen, laufen ausdauernd durch Wälder oder Städte und schaukeln sich durch den gleichmäßigen Rhythmus der Schritte in einen wohligen Dämmerzustand. »Wer begreifen will, was Denken ist, muß zu begreifen versuchen, was Träumen ist«, schreibt Christoph Türcke.

    Wer sich passiv und abwartend verhält, gerät leicht in den Verdacht, lethargisch, handlungsunfähig, fremdbestimmt zu sein, während der aktive, offensive Mensch, der ›nichts anbrennen lässt‹, als potent, frei und selbstbestimmt gilt. Dabei ist es im Grunde gerade umgekehrt: Menschen, die sich blindlings in Aktionismus stürzen, sind häufig unfähig, eine situative Spannung auszuhalten, und agieren insofern in höchstem Maße unfrei. Sie unterliegen einem inneren Zwang, Momente der Stille und der Unbestimmtheit sofort zu zerstören beziehungsweise gar nicht erst aufkommen zu lassen, weil sie solche Augenblicke als peinlich und verstörend, als zutiefst quälend und unangenehm empfinden. Wenn sie von der Arbeit nach Hause kommen und eigentlich nichts Dringendes mehr zu tun ist, räumen sie auf oder erledigen private E-Mail-Post, weil sie eine unbestimmte Angst packt, sobald sie untätig sind; wenn in Gesprächsrunden ein Schweigen eintritt, müssen sie sprechen, obwohl es eigentlich nichts zu sagen gibt; und wenn sie einen Wartesaal oder einen Tagungsraum betreten, setzen sie sich sofort auf den nächstbesten Platz, ohne den Blick auch nur eine Sekunde schweifen zu lassen: Es könnte ja irgendjemand die eigene Unsicherheit bemerken, diesen kurzen Moment des Zögerns und Zauderns …
    Der passive Mensch hingegen schafft sich und anderen Handlungsoptionen, gerade weil er nicht sofort agiert und spannungsvolle Augenblicke aushält. »Im Nichttun werden [...] Zwischenzonen kreiert, die sich als Pause oder als Intervall, als Durchquerung oder als Leerstelle, als Potential oder Spielraum beschreiben lassen«, so die Philosophinnen Alice Lagaay und Barbara Gronau. »Bezeichnenderweise hat das Nichttun darin weniger beendenden, als vielmehr eröffnenden Charakter. Es markiert die Sphäre des Möglichen.« Wer sich in unbestimmten Situationen abwartend verhält, nimmt
sich Zeit, diese Situationen auf sich wirken zu lassen und ihre Spielräume auszuloten – ein Verhalten, das genau besehen um einiges souveräner ist als ein offensives Vorpreschen, in dem sich die eigene Unsicherheit nur umso deutlicher offenbart. Selbstbestimmt ist somit gerade der, der sich zunächst einmal bestimmen lässt : nämlich von Gegebenheiten, die es wahr- und in das eigene Handeln hineinzunehmen gilt.
    Tatsächlich gibt es Lebensumstände, die wir gar nicht oder doch zumindest nicht vollständig bestimmen können. Umstände, die unser Leben begrenzen, umzirkeln und in deren Wirkkreis sich die je eigene Existenz abspielt. Wir werden in eine bestimmte Familie, in ein bestimmtes Land, in eine bestimmte Stimmung hineingeboren, qua biologischer und sozialer Herkunft sind wir ausgestattet mit einem Geschlecht, einem Körper, einem Namen, einer Psyche, einer Identität. »Wer nicht in vielerlei Hinsicht bestimmt wäre, könnte selbst nichts bestimmen; es wäre nichts da, dem gegenüber eine eigene Bestimmung ein Gewicht haben könnte. Bestimmt zu sein ist ein konstitutiver Rückhalt von Selbstbestimmung«, schreibt Martin Seel. Das eigene Dasein hätte keinerlei Kontur und auch keine Richtung, wenn wir nicht in vielerlei Hinsicht bestimmt wären. Das soll natürlich keineswegs heißen, dass wir uns vollkommen tatenlos in ein gottverfügtes Schicksal ergeben müssten – dennoch kann es selbstbestimmtes Handeln logischerweise nur geben vor dem Hintergrund eines Selbst, das eine relative Konstanz aufweist. Wenn wir heute dieses Geschlecht hätten und morgen jenes, heute in diesem Körper steckten und morgen in jenem, heute diesen Namen trügen und morgen jenen; wenn wir unsere Psyche und unseren Charakter nach Belieben verändern und manipulieren könnten, ergäbe ein Begriff wie Selbstbestimmung keinen Sinn mehr. Denn vor welchem Hintergrund fände diese Bestimmung statt?

    Uns Menschen fällt es bekanntlich schwer, Unverfügbares auszuhalten. Nicht nur, dass uns defekte E-Mail-Programme oder verspätete U-Bahnen häufig wütend und hilflos machen, auch die

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