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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Autoren: Joachim Gauck
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reichlich in Wustrow. In der Segelschiffszeit besaß der Ort eine für damalige Verhältnisse beachtliche Flotte. Als Ende des 19. Jahrhunderts die Dampfschiffe die Segler verdrängten, entwickelte sich ein sehr bescheidener Tourismus, auch wenn die Anreise zunächst äußerst beschwerlich war. Bis 1929 die Fischlandchaussee gebaut wurde, gelangte man ausschließlich mit dem Schiff von Ribnitz aus über den Bodden nach Wustrow. Mit einem Segelboot oder einem Dampfer wurden Badegäste, Kühe, Schafe, Schweine und Post zwei Mal am Tag innerhalb einer Stunde übergesetzt. Noch nach dem Krieg standen die Jungen an der Anlegestelle, um das Gepäck der Feriengäste mit Schubkarren oder Ziehwagen in die Pensionen zu transportieren. Auch ich habe mir so gelegentlich in den Schulferien Taschengeld verdient.
    Einer der Höhepunkte des Sommers war seit Generationen das Tonnenabschlagen, ein Volksfest in den Dörfern rund um den Bodden, das nicht zuletzt eine so große Bedeutung gewann, weil Schützenfeste und andere ländliche Traditionen von den Kommunisten aus den Dörfern verbannt worden waren. Wie aus der Zeit gefallen war dieses Volksfest - ohne FDJ-und Pionierumzüge, ohne sozialistische Lieder und Reden von Parteifunktionären. Stattdessen ein Umzug mit geschmückten Pferden und Reitern, mit Auszeichnungen aus der Vorkriegszeit, einem Ritual, das dauerhaft blieb, mochten sich die Zeiten und Flaggen auch wandeln. Ursprünglich hat man mit dem Fest die Ablieferung der letzten Heringstonne an die Schweden gefeiert, die Teile Mecklenburgs und Vorpommerns bis ins 19. Jahrhundert besetzt hielten. Im Laufe der Zeit ist daraus ein beliebtes Volksfest geworden, ein Wettkampf zu Pferde, bei dem im Galopp auf ein Heringsfass
in drei bis vier Meter Höhe eingeschlagen werden muss, bis es zerbricht. Und der siegreiche Tonnenkönig stößt an: »Hoch Fischlands Art und Sitte / Und alter Väter Art!«
    Es hatte etwas Tröstliches für die, die am Rande in bunten Sommerkleidern zuschauten, und für die, die mit schweren Holzknüppeln gegen das Fass schlugen. Es machte Spaß, es war schön, es war »unsers«, und alle wünschten sich: So soll es bleiben.
    Für Touristen gewann Wustrow noch an Attraktivität durch das vier Kilometer entfernte Ahrenshoop. Wegen seiner Abgeschiedenheit und eigenwilligen Melancholie hatte dieses Küstendorf seit Ende des 19. Jahrhunderts Maler und Schriftsteller angezogen und sich wie Worpswede zu einer Künstlerkolonie entwickelt. Hier arbeiteten unter anderen die Maler Paul Müller-Kaempff und Erich Heckel. In der Nähe erwarb auch der Bildhauer Gerhard Marcks ein Haus; zunächst pendelte er zwischen Berlin und dem Fischland; nachdem die ationalsozialisten ihn als Professor entlassen, große Teile seiner Arbeiten beschlagnahmt und zur entarteten Kunst erklärt hatten, zog er sich bis Kriegsende gänzlich hierher zurück. Nur wenig entfernt von ihm ließ sich der Maler Fritz Koch-Gotha nieder, der berühmte Autor der »Häschenschule«. Er fand seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof von Wustrow, ebenso Dora Menzler, die Gymnastiklehrerin aus Leipzig, die 1908 eine Schule für Bewegung und Musikerziehung gegründet hatte und den Unterricht in den Sommermonaten nach Wustrow verlegte. 1933 gab Dora Menzler die Leitung der Schule ab, weil sie als Halbjüdin deren Schließung fürchten musste. Doch ihre Arbeit blieb im Gedächtnis. Noch nach dem Krieg hörte ich immer wieder von den »Hüppers«, den jungen Frauen, die nackt am Wustrower Strand getanzt hatten. Sie hatten die Freikörperkultur für sich entdeckt, die in DDR-Zeiten am Ostseestrand trotz des phasenweisen Widerstands der prüden kommunistischen Herrschaft äußerst populär blieb.
    In Wustrow selbst lebten die Maler Hedwig Holtz-Sommer und ihr Mann Erich Theodor, genannt ETH. Mein Schulfreund Christian Gätjen lernte von ihnen auf vielen gemeinsamen Wanderungen
und blieb ihnen mit seinen Blumen-und Landschaftsbildern treu bis zu seinem frühen Tod 2008.
    In dieser Welt bin ich aufgewachsen. Meine Mutter hatte mich am 24. Januar 1940 in einer Rostocker Klinik zur Welt gebracht. Auf der Heimfahrt blieb das Auto meines Großvaters etwa einen Kilometer von unserer Wohnung entfernt in einer Schneewehe stecken, ein Militärfahrzeug musste uns aus den Schneemassen befreien. Es war ein kalter Winter, Eisbrecher hielten nur mit Mühe die Fahrrinne über die Ostsee nach Dänemark frei, Südschweden meldete vier Meter hohe Schneewehen.
    Besonders denen, die
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