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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Autoren: Joachim Gauck
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aus den Städten kamen, erschien das Dorfleben friedfertig, auch wenn Krieg war. Da waren die kleinen Häuser, die neugotische Kirche, von deren Turm aus der Ort von der Ostsee bis zum Bodden zu überblicken war, der ewige Wind, der durch die Pappeln und Linden fuhr, über die Felder und Dünen. Und wenn der Wind stärker wurde, war da die laute, bedrohliche Brandung, die manchmal so wütend tobte, dass sie Menschenopfer forderte oder Schiffe auf den Strand warf - wie 1965 die »Stinne«, einen dänischen Zwei-Mast-Schoner, der nicht mehr frei geschleppt werden konnte.
    Mein Vater wurde bald zur Kriegsmarine eingezogen und war fast nie bei uns. Aber ich fühlte mich dennoch geborgen, unsere dreiköpfige Restfamilie war keineswegs allein. Oma Antonie wohnte nur wenige Minuten entfernt, außerdem traf sich meine Mutter trotz Krieg und Not regelmäßig mit anderen Kapitänsfrauen zu einem Kränzchen. Wir waren immer viele, denn Familien mit fünf Kindern waren keine Ausnahme. In meiner Erinnerung waren es heitere Treffen. Wenn die Frauen Angst um ihre abwesenden Männer gehabt haben, so haben wir Kinder nichts davon gespürt.
    Ich sei, sagt meine anderthalb Jahre jüngere Schwester Marianne, Mutters Liebling gewesen. Dafür sprechen auch die kurzen Kommentare, die meine Mutter zu Fotos aus meinem ersten Lebensjahr verfasste. Nach den Erzählungen, die im Familienkreis weitergetragen wurden, dürfte der kleine Junge jedoch eine recht
gespaltene Haltung zu dieser Frau gehabt haben. Er soll als Säugling und kleines Kind viel geschrien haben, weil er nicht genug zu trinken und zu essen bekam. Seine Mutter hatte wie Hunderttausende anderer deutscher Frauen wohl gelesen, was Johanna Haarer in ihrem Buch »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« für die Säuglingspflege empfahl: Wenn das Kind schreie und als Beruhigungsmittel auch der Schnuller versage, »dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen.« Später fand ich dieses Buch in unserem Bücherschrank. »Auch das schreiende Kind muss tun, was die Mutter für nötig hält, und wird, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt, gewissermaßen ›kaltgestellt‹, in einen Raum verbracht, wo es allein sein kann und so lange nicht beachtet, bis es sein Verhalten ändert. Man glaubt gar nicht, wie früh und wie rasch ein Kind solches Vorgehen begreift.«

    Kriegssommer 1940 im Garten unserer Wustrower Wohnung in der damaligen Adolf-Hitler-Straße. Ich bin umgeben von den drei Frauen, die über die ersten Jahre meines Lebens wachten: Großmutter Antonie hält mich auf dem Schoß, flankiert von meiner Mutter (links) und Großmutter Warremann (rechts), ganz links unsere Nachbarin.

    Meine Mutter muss die Anweisungen genau befolgt haben. Regelmäßig wurde der kleine Junge in seinem Kinderwagen hinausgeschoben auf die Wiese neben dem Haus. Entgegen Johanna Haarers Vorhersage aber scheint er sich keineswegs rasch und klaglos dem Mutterwillen unterworfen zu haben, denn er hat - so wurde kolportiert - weiterhin erbärmlich geschrien. Das Schreien stärke die Lungen, beruhigten sich damals die Mütter, es sorge dafür, dass das Kind gesund bleibe. So kam es, dass der unbeachtete und ungesättigte kleine Junge ständig Ausschau hielt, wo es etwas zu essen oder zu trinken gab. Als dann sehr schnell ein zweites Baby, meine Schwester Marianne, kam, griff der Kleine, wenn er sich unbeobachtet glaubte, gierig nach der Babyflasche, trank sie in einem Zug leer und strahlte - für kurze Zeit.
    Obwohl Krieg war, es Lebensmittelkarten gab und Mangel herrschte, hat es uns in Wustrow dank der organisatorischen Fähigkeiten meiner Mutter selten an etwas gefehlt. Wir weckten ein, was im Garten heranreifte, außerdem konnte man Obst und Gemüse bei den Nachbarn erwerben. Unsere Versorgung wurde schlagartig schlechter, als Mutter mit meiner Schwester Marianne und mir für mehr als vier Monate, von Juli bis Dezember 1943, zu meinem Vater zog. Nach einem Einsatz in einer Minensuchflottille vor der dänischen Ostküste war er nach Adlershorst bei Gdingen, dem damaligen Gotenhafen, an die avigationsschule versetzt worden, wo er Mathematik und Nautik unterrichtete. Offensichtlich versuchte Mutter, den Lebensstandard von Wustrow zu halten, versagte dabei aber unter den Bedingungen im besetzten Polen. In Briefen an ihre Schwester Gerda bat sie um die Nachsendung eines
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