Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Autoren: Joachim Gauck
Vom Netzwerk:
ebenfalls ein langjähriger Spitzel der Stasi, mitgeteilt worden sei, die Thüringer Landeskirche habe einen Beschluss zum Kauf des Hauses gefasst. Die Kirche konnte sowohl die Unterstützung vom Rat des Bezirks Erfurt als auch des Bezirks Rostock für ihr Anliegen gewinnen.
    Von diesen Vorgängen hatte ich keinerlei Kenntnis. Völlig unvermittelt wurde ich als Leiter der Kirchentagsarbeit der Mecklenburgischen Landeskirche während eines Dienstgesprächs zur Vorbereitung des Kirchentags 1988 informiert, der Rat des Bezirks habe nichts dagegen einzuwenden, wenn ich mein Haus an der Ostsee verkaufen würde. Man wollte mir einen »Gefallen« tun, um mich gefügig zu machen. Ich verstand das Angebot sofort und sagte kühl: »Ich habe kein Haus. Meinen Sie meinen Vater?«
    Überraschenderweise scheiterten die Verhandlungen mit der Thüringischen Landeskirche im Oktober 1988, von weiteren Interessenten hat Rechtsanwalt Schnur uns nichts mehr mitgeteilt. Offensichtlich war er völlig ausgelastet als gesuchter Strafverteidiger von Oppositionellen, als einer der effektivsten Informanten der Stasi und als aktiver Christ in Ehrenämtern der evangelischen Kirche. Die zivilrechtlichen Dinge mussten warten.
    Sie blieben liegen, bis das Volk der DDR die Regierenden verjagte. Plötzlich war nichts mehr, wie es vorher war. Aus dem angesehenen Anwalt und angehenden Regierungschef der DDR von 1990 wurde eine Persona non grata, aus »Recht« wurde wieder
Recht, arrogante Kombinatsleiter und Juristen verwandelten sich in entgegenkommende Vertragspartner.
    Das Haus - inzwischen völlig verwahrlost - kam zurück zur Familie. Wir haben es mit Krediten instand setzen lassen und wie Oma Antonie Ferienwohnungen eingerichtet. Und wenn es irgend geht, kommen wir selbst zu Besuch: vier alt gewordene Enkelkinder, zehn Urenkel und sechzehn Ururenkel. In jeder Wohnung des Hauses hängen einige alte Fotos, die Gästen, die es interessiert, ein klein wenig über die Geschichte des Hauses erzählen. Und über Oma Antonie, »de Fru, de woll nich ganz klauk wier«.

Winter im Sommer
    E s war der 27. Juni. Dieser Tag spielte in unserer Familie eine besondere Rolle. Er war nicht nur der Siebenschläfer, an dem sich entscheiden würde, wie der Sommer sein sollte. Der 27. Juni war Oma Antonies Geburtstag. 1951 wurde sie 71 Jahre alt. Meine Eltern fuhren mit der jüngsten Schwester, der damals vierjährigen Sabine, zur Geburtstagsfeier in die Lindenstraße nach Wustrow. Am nächsten Morgen kehrte unsere Mutter allein zurück, aufgelöst, mit dem Kind auf dem Arm.
    »Sie haben Vater abgeholt.«
    Tags zuvor waren kurz vor 19 Uhr zwei Männer in Zivil bei Oma Antonie aufgetaucht: Ob sie Joachim Gauck hier finden könnten? Sie hatten ihn bereits in unserer Rostocker Wohnung gesucht, dort aber von meiner Schwester Marianne erfahren, dass er sich in Wustrow aufhalte. Auf der Neptun-Werft sei ein Unfall geschehen, behaupteten die Männer, mein Vater - damals Arbeitsschutzinspektor für Schifffahrt in Rostock - müsse mitkommen, um die Sache zu untersuchen.
    Die beiden warteten eine Stunde, bis Vater von einem Besuch bei einem Freund zurückkehrte, dann zogen sie sich mit ihm in die Gartenlaube zurück. Ihm sei das Ganze gleich suspekt erschienen, hat Vater später erzählt. Kurz hätte er überlegt: Ich könnte durch den Garten weglaufen Richtung Seefahrtschule, könnte mich verbergen. Aber er fürchtete, dann würde seiner Familie etwas geschehen, und so erklärte er sich bereit mitzufahren. Meine Mutter griff hastig nach Tasche und Jacke, um ihn zu begleiten, aber sie wurde zurückgewiesen.Vater folgte den beiden Männern und stieg mit ihnen in einen blauen Opel. Seitdem war er verschwunden.
    Eben: abgeholt.
    Selbst uns Kindern war dieses Wort vertraut, es signalisierte
Unheil und Gefahr. Dass schon in der Ära der braunen Diktatur »abholen« eine böse Bedeutung hatte, würde ich erst später erfahren. Aber alle wussten damals: Wer in der Kneipe zu tief ins Glas schaute und ungeschützt redete, wer bei Familienfeiern zu laut politische Witze erzählte oder Lieder von gestern sang, wurde schnell gewarnt: »Halt den Mund - oder willst du abgeholt werden?« Wir hatten schon gehört von solchen Menschen, in der Regel kannten wir sie aber nicht.
    Später, als ich Uwe Johnsons »Jahrestage« las, erhielten diese mecklenburgischen Menschen für mich Namen: Prof. Dr. jur. Tartarin-Tarnheyden aus Rostock, 1945 verurteilt zu zehn Jahren Zwangsarbeit; Prof. Ernst Lübcke,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher