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Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst

Titel: Winter Im Sommer - Fruehling Im Herbst
Autoren: Joachim Gauck
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ergewaltigungen habe ich nichts bemerkt. Meine Mutter wurde zwar manchmal belästigt, dann stand ein Soldat grinsend auf der Türschwelle. Doch offensichtlich haben die Anwesenheit des Majors und das neugeborene Kind sie geschützt. Andere Frauen hingegen wurden abends um sieben zum Ausheben von Schützengräben auf den Deich befohlen. Sie hatten keine Chance zu entkommen.Vor ihnen die Ostsee, hinter ihnen Wiesen, in denen Flüchtende sofort auszumachen gewesen wären. Am Tag nach solchen Einsätzen erschienen dann einige in der Praxis unseres Arztes Dr. Meyer, der Scheidenspülungen vornahm, um Schwangerschaften zu verhindern. Im Frühjahr und Sommer 1945 suchten bis zu vierzig Menschen in seinem Haus
Zuflucht, zwei Drittel von ihnen Frauen. Zur Abschreckung sowjetischer Soldaten hatte Familie Meyer das Bett der Großmutter gleich hinter der Eingangstür aufgestellt. Sie hatte Gelbsucht und war so quittegelb, dass ein Russe, wenn er sich tatsächlich über die Schwelle traute, gleich wieder kehrtmachte.
    Die Soldaten hatten schreckliche Angst vor Typhus, Paratyphus und Infektionskrankheiten.Offiziere, bei denen man eine Geschlechtskrankheit feststellte, wurden zum einfachen Soldaten degradiert. Deswegen war Doktor Meyer auch bei den Besatzern gefragt. Einmal wurde er abends zum russischen Kommandanten gerufen, um dessen Tripper zu behandeln. Erst am nächsten Morgen kehrte der Arzt nach Hause zurück - sturzbetrunken, weil er die ganze Nacht hatte anstoßen müssen: »Sto gramm!« Die Familie war ihm trotzdem nicht gram, denn er brachte, eingewickelt in gestohlenes Leinen, ein Stück von einer requirierten Kuh mit: ein Dank des Kommandanten.
    Bei uns sah es allerdings anders aus. Das Essen war knapp. Bald gab es keinen Zucker mehr, kein Brot, kein Mehl, nicht einmal Salz. Im Sommer liefen die Frauen zum Strand, schöpften Wasser aus der Ostsee und ließen es in großen Zinkwannen verdunsten. Die Methode war wenig ergiebig, gerade mal ein weißer Hauch setzte sich am Wannenboden ab, wenn das Wasser verdunstet war. Das Obst und Gemüse aus den Gärten und das wenige Vieh reichten nicht aus, um die Dorfbewohner zu ernähren, zumal die Einwohnerzahl durch den Zustrom der vielen Flüchtlinge aus Ostpreußen und Pommern bei Kriegsende wohl doppelt so hoch war wie vor dem Krieg. Einige Wustrower hatten etwas von dem Proviant retten können, den ein SS-Trupp zurückließ, als er sich im letzten Moment über die Ostsee nach Dänemark absetzte. Andere gingen auf Hamsterfahrt, setzten mit dem Dampfer über nach Ribnitz und zogen von Bauernhof zu Bauernhof, um Bettwäsche oder Tischdecken gegen Eier und Brot zu tauschen. Im Übrigen war es wichtig, dass es Fischer gab - Flüchtlinge aus Ostpreußen und Pommern, die Schollen aus der Ostsee holten, Sprotten und kleine Fische, die sie Tobis nannten.

    Wo Jugendliche in den Familien waren, fiel das Organisieren leichter. Als beispielsweise eine der Kühe, die die Russen an der Küste von Wustrow nach Althagen trieben, am Hohen Ufer abstürzte, konnte, wer schnell genug zur Stelle war, mit einem Stück Fleisch nach Hause ziehen. Ein Sohn des Arztes stahl in sportlichem Ehrgeiz den russischen Soldaten sogar neun frei laufende Pferde. Sein Vater scheuchte sechs Tiere gleich wieder weg, eines aber spannte er vor das Gefährt, das ihm als Ersatz für sein eingezogenes Auto diente, ein weiteres tauschte er bei einem Bauern gegen eine Kuh. So trugen Jugendliche erheblich zum Überleben ihrer Familien bei.
    Meine Mutter hatte es dagegen schwer, unsere Familie durchzubringen. Mein Vater, der kurz vor dem Einmarsch der Sowjettruppen von Ostpreußen in die Marine-Kriegsschule nach Flensburg-Mürwik versetzt worden war, war in englische Gefangenschaft geraten. Unter Aufsicht eines englischen und eines polnischen Verbindungsoffiziers hatte er ehemalige polnische Zwangsarbeiter auf Frachtschiffen in ihre Heimat zurückzubringen. Wir wussten zunächst nichts von seinem Verbleib, erst im Sommer 1946 kehrte er nach Hause zurück. Wir drei Kinder aber waren bei Kriegsende noch zu klein, um Mutter beistehen zu können. So zogen wir Ende 1945 von Wustrow zu den Großeltern Warremann nach Rostock, in die Räume, die Mutters Schwester gerade verlassen hatte, weil ihrem Mann eine Pfarrstelle in dem mecklenburgischen Dorf Sanitz zugewiesen worden war.
    Großmutter Antonie blieb allein in Wustrow zurück. Sie hoffte auf die Rückgabe ihres Hauses an der See. Doch von den Russen ging das Haus an einen
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