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Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde

Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde

Titel: Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde
Autoren: Dorothy L. Sayers
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Thorndyke könnte es bestimmt sofort. Ach ja, natürlich – wie dumm von mir! Er muß ein Literat sein. Die ziehen gern herum und scheren sich nicht um ihre Familie.«
    Sie war jetzt nur noch ein paar Meter von dem Felsen entfernt und sah zu dem Schläfer hinauf. Er lag in unbequemer Haltung am äußersten Rand auf der dem Meer zugekehrten Seite des Felsens, die Knie angezogen, so daß man seine blaßlila Socken sah. Von dem zwischen die Schultern gezogenen Kopf war nichts zu sehen.
    »Wie kann man in dieser Stellung nur schlafen!« sagte Harriet. »So schläft eine Katze, aber kein Mensch. Das ist unnatürlich. Sein Kopf muß fast über die Kante hängen. Er könnte einen Schlaganfall kriegen. Also, wenn ich Glück habe, ist es eine Leiche, und dann melde ich den Fund und komme in die Zeitung. Eine tolle Reklame ›Bekannte Kriminalschriftstellerin findet geheimnisvolle Leiche an einsamem Strand.‹ Aber so etwas passiert Schriftstellern nie. Leichen werden immer nur von friedlichen Arbeitern oder harmlosen Nachtwächtern gefunden …«
    Der Felsen hatte die Form eines schrägliegenden riesengroßen Kuchenstücks, das mit dem breiten Ende steil ins Meer hinausragte, während die Oberseite zum Strand hin sanft abfiel, bis sie mit der Spitze im Sand verschwand. Harriet stieg über die glatte, trockene Fläche hinauf, bis sie fast direkt auf den Daliegenden hinunterblicken konnte. Er rührte sich nicht. Etwas drängte sie, ihn anzusprechen.
    »He!« sagte sie vorwurfsvoll.
    Keine Bewegung, keine Antwort.
    »Mir wär’s ganz recht, wenn er nicht aufwachte«, dachte sie. »Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich hier so herumschreie. He! «
    »Vielleicht hat er einen Schlag bekommen oder ist in Ohnmacht gefallen«, sagte sie zu sich. »Oder er hat einen Sonnenstich. Wäre sehr gut möglich. Heiß genug ist es.« Sie sah blinzelnd hinauf zum gleißenden Himmel, dann bückte sie sich und fühlte den Fels an. Fast hätte sie sich verbrannt. Noch einmal rief sie, dann beugte sie sich über den Mann und packte ihn bei den Schultern.
    »Fehlt Ihnen etwas?«
    Der Mann blieb stumm. Sie rüttelte leicht an seiner Schulter. Die Schulter rutschte ein wenig beiseite – wie eine leblose Masse. Harriet bückte sich tiefer und hob vorsichtig den Kopf des Mannes hoch.
    Es war ihr Glückstag.
    Es war eine Leiche. Und zwar eine solche, bei der auch nicht der geringste Zweifel mehr möglich war. Mr. Samuel Weare aus dem Lyons Inn, dem man »die Kehle von einem Ohr zum andern durchgeschnitten« hatte, hätte nicht toter sein können. Daß der Kopf sich unter Harriets Griff nicht ganz vom Rumpf gelöst hatte, lag nur daran, daß die Halswirbel noch heil waren; die Luftröhre und alle Adern waren glatt durchtrennt, »bis auf den Knochen«, und ein grausiger Bach lief tief hellrot und glänzend über den Stein und tropfte weiter unterhalb in eine kleine Vertiefung.
    Harriet legte den Kopf wieder hin, und plötzlich war ihr übel. Sie hatte solche Leichen oft in ihren Büchern beschrieben, aber so ein Ding wirklich und leibhaftig vor sich zu sehen, war doch etwas anderes. Sie hatte sich niemals klargemacht, wie schlachthausmäßig ein durchschnittener Hals aussah, und sie war auch nicht auf diesen abscheulichen Blutgeruch gefaßt gewesen, der ihr unter der sengenden Sonne in die Nase stieg. Ihre Hände waren rot und klebrig. Sie betrachtete ihre Kleidung. Gott sei Dank hatte sie nichts abbekommen. Mechanisch stieg sie wieder von dem Felsen hinunter und ging um ihn herum ans Wasser, wo sie sich mehrmals die Hände wusch, um sie danach mit alberner Gründlichkeit an ihrem Taschentuch abzutrocknen. Der Anblick des roten Rinnsals, das an dem Fels hinunter ins klare Wasser lief, war ihr unangenehm. Sie trat ein paar Schritte zurück und ließ sich ziemlich überstürzt auf einem Gesteinsbrocken nieder.
    »Eine Leiche«, sagte Harriet laut zur Sonne und zu den Möwen. »Eine Leiche. Wie – wie das paßt!« Dann mußte sie lachen.
    »Das wichtigste ist jetzt, Ruhe zu bewahren«, hörte sie sich nach kurzer Pause sagen. »Nur nicht den Kopf verlieren, mein Kind. Was würde Lord Peter Wimsey in so einem Fall tun? Und natürlich auch Robert Templeton?«
    Robert Templeton war der Held, der zwischen den Deckeln ihrer Bücher Bösewichter jagte. Sie verdrängte Lord Peter Wimsey aus ihren Gedanken und konzentrierte sich ganz auf Robert Templeton. Dieser war ein in den Naturwissenschaften ungemein bewanderter Herr, der zudem über erstaunliche
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