Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wilhelm II

Wilhelm II

Titel: Wilhelm II
Autoren: Clark Christopher
Vom Netzwerk:
russischen,
reaktionären, pietistischen Fraktion ist mir völlig gleichgültig, und ich verachte ihre Denkweise von ganzem Herzen und hoffe auf Gott, dass ihre Zeit vorüber ist.« 5
    Die »Russenfraktion« war in der Religion streng dogmatisch oder evangelisch, in der Innenpolitik reaktionär und in der Außenpolitik nach Osten orientiert – damit bildete sie den kulturellen und politischen Antipoden zum Kronprinzenpaar und seinem Umfeld. Friedrich Wilhelm und Victoria waren in theologischer Hinsicht liberal, politisch fortschrittlich gesinnt, in der Außenpolitik orientierten sie sich nach Großbritannien und hegten gegen Russland ein tiefes Misstrauen. Allein diese Konstellation sorgte natürlich für immense Spannungen. Hinzu kam, dass Victoria, die liberalere der beiden und die dominante Persönlichkeit in der Partnerschaft, eine intelligente, redegewandte, rechthaberische und emotionale Frau war, die sich der eigenen Überlegenheit über ihr Umfeld durchaus bewusst war. Dank ihrer scharfsinnigen Beobachtungsgabe, ihres Außenseiterstatus und ihres starken Interesses an politischer Macht zählt Victorias Briefwechsel mit ihrer Mutter Königin Victoria von England zu den besten Quellen über das Leben am preußischen Hof. Mit diesen Eigenschaften wiederum aber machte sie sich bei den Konservativen am Hof nicht gerade beliebt. Sie hielten ihr forsches Auftreten für unziemlich und warfen der Kronprinzessin später gar vor, sie hätte ihren Mann dem eigenen politischen Willen unterworfen.
    Anfangs war die dominierende Stellung der »Russen« bei Hof und in der Berliner Gesellschaft nicht mehr als ein lästiges Reizthema für den Kronprinzen und seine Frau. Doch die Dinge nahmen 1862 eine dramatische Wendung, als ein längerer Konflikt zwischen der Krone und der liberalen Mehrheit im preußischen Landtag in der Ernennung des bekanntlich illiberalen Otto von Bismarck zum Ministerpräsidenten und der Schließung des Landtags ohne die Ausschreibung von Neuwahlen kulminierte. Die »reaktionäre Partei« kontrollierte von jetzt an allein die Regierungsorgane und schickte sich an, ihre »russische« Agenda
in der Außenpolitik umzusetzen. 6 Viel schlimmer war aber, dass der Hof selbst nach rechts tendierte. Der König schwankte nicht länger zwischen den Fraktionen hin und her, wie Friedrich Wilhelm IV. es in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch getan hatte, sondern verbündete sich eindeutig mit den reaktionären Interessengruppen. »Die reaktionäre Partei wird von Tag zu Tag stärker«, schrieb Victoria im Juli 1862, »und hat den König jetzt ganz auf ihrer Seite und in ihrer Gewalt.« Im Sommer diesen Jahres lagen Kronprinz Friedrich Wilhelm und sein Vater auf politischer Ebene bereits so weit auseinander, dass eine rationale Unterhaltung so gut wie unmöglich war. Die leiseste Anspielung auf politische Angelegenheiten, berichtete Victoria, »bringen ihn [Friedrich Wilhelm] zur Raserei und regen die ganze Abwehrkraft in seiner Natur an, so dass es unmöglich ist, mit ihm zu diskutieren oder zu argumentieren«. 7 Dem Kronprinzen und seiner Frau machte der Umschwung der politischen Stimmung bei Hofe ihre Isolation und Machtlosigkeit schmerzlich bewusst. »Das Gefühl der Demütigung ist am schwersten zu ertragen«, schrieb Victoria im Januar 1863. »Es bleibt uns nichts anderes übrig, wie als passive Augenzeugen der beklagenswerten Fehler zu schweigen, die von jenen begangen werden, die wir lieben und verehren.« 8
    Natürlich gab es auch eine Alternative zum Schweigen, und der Kronprinz und seine Frau waren in Wirklichkeit nicht völlig allein. In ganz Preußen stellte eine einflussreiche, liberale Bewegung weiterhin die Legitimität einer Regierung in Frage, die inzwischen ohne Parlament und im Widerspruch zur Verfassung herrschte. Am 5. Juni 1863 stellte sich der Kronprinz nach der Veröffentlichung neuer Dekrete, welche die Pressefreiheit einschränkten, zum ersten Mal öffentlich gegen die neue Regierung. Bei einem Empfang, der ihm zu Ehren von der Stadt Danzig gegeben wurde, distanzierte er sich von der Regierung Bismarck und äußerte sein Bedauern über die jüngsten, provokativen Maßnahmen. Das Ereignis war allerdings längst nicht von so großer Tragweite, wie man in diesem Moment zunächst glaubte.
Friedrich Wilhelm hatte nicht den Mut, sich dauerhaft an die Spitze der fortschrittlichen Bewegung zu stellen. Er versicherte sogar seinem Vater, dass er künftig von derartigen Protesten Abstand
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher