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Wilde Flucht

Wilde Flucht

Titel: Wilde Flucht
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ging von Baum zu Baum, schlug aber nicht in alle Stämme Nägel ein. Er bearbeitete jede Tanne auf die gleiche Art: Den ersten Nagel trieb er in Augenhöhe ins Holz, umrundete den Baum zu einem Viertel und schlug etwa dreißig Zentimeter tiefer einen weiteren Nagel ein und immer so weiter, bis der letzte nur knapp über dem Boden saß.
    » Tut das den Bäumen nicht weh?«, fragte Annabel, nahm dabei seinen Rucksack ab und lehnte ihn an einen Stamm.
    » Natürlich nicht«, erwiderte er und näherte sich dabei einem weiteren Opfer. » Ich würde das nicht tun, wenn es den Bäumen wehtäte. Du musst noch viel über mich lernen, Annabel.«
    » Warum schlägst du so viele Nägel ein?«
    » Gute Frage.« Er hieb einen weiteren Nagel ins Holz. » Früher konnten wir auf Kniehöhe in den Himmelsrichtungen je einen Nagel einschlagen, denn Bäume werden normalerweise kniehoch abgesägt. Doch die Holzfirmen haben das gemerkt und die Holzfäller angewiesen, die Stämme höher oder niedriger zu fällen. Deshalb schlagen wir die Nägel nun im Abstand von dreißig Zentimetern ein.«
    » Und wenn sie versuchen, die Bäume zu fällen?«
    Stewie lächelte und hielt kurz inne. » Wenn das Blatt einer Kettensäge einen Stahlnagel trifft, kann es reißen und wie eine Peitsche durch die Luft schnellen. Auf jeden Fall gehen die Zähne der Säge kaputt. Das kann den Arbeiter allerdings auch ein Auge oder die Nase kosten.«
    » Das ist ja furchtbar«, sagte sie, fuhr zusammen und fragte sich, wo sie da hineingeraten war.
    » Ich habe nie Verletzungen verursacht«, fügte Stewie rasch hinzu und sah sie streng an. » Es geht nicht darum, jemanden zu verletzen. Es geht darum, Bäume zu retten. Wenn wir fertig sind, rufe ich die hiesige Rangerstation an und sage Bescheid, was wir getan haben – allerdings werde ich ihnen nicht verraten, wo genau wir in wie viele Bäume Nägel geschlagen haben. Das dürfte genügen, um Holzfäller jahrzehntelang aus diesem Waldgebiet zu halten, und darauf kommt es an.«
    » Bist du schon mal geschnappt worden?«
    » Einmal.« Stewies Miene verdüsterte sich. » Ein Ranger hat mich bei Jackson Hole erwischt und mich in der Urlaubszeit mit gezogener Pistole durch Jackson geführt. Die Hälfte der Touristen hat gejubelt, und die andere Hälfte hat gerufen: › Hängt ihn! Hängt ihn auf!‹ Ich wurde für sieben Monate ins Staatsgefängnis von Wyoming in Rawlins gesteckt.«
    » Jetzt, wo du das erzählst, glaube ich, davon gelesen zu haben«, sagte sie nachdenklich.
    » Gut möglich. Das Fernsehen hat die Sache aufgegriffen – ich habe in zwei Nachrichtensendungen Interviews gegeben. Und das Magazin Outside hatte mein Foto auf dem Umschlag. Hayden Powell, den ich seit meiner Kindheit kenne, hat die Titelgeschichte geschrieben und den Begriff › ‚Ökoterrorist‹ geprägt.« Diese Erinnerung gab Stewie mächtig Auftrieb. » Aus allen Ecken der USA kamen Journalisten zu meiner Verhandlung«, fuhr er fort. » Sogar die New York Times hatte jemanden geschickt. Die meisten Leute haben bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal von der Organisation Eine Welt gehört und erfahren, dass ich sie gegründet habe. Danach haben wir rund um den Globus viele Mitglieder gewonnen.«
    Annabel nickte. Eine Welt – die Öko-Aktivisten mit dem Logo der gekreuzten Schraubenschlüssel zum Andenken an den verstorbenen Schriftsteller Edward Abbey und sein Buch Die Schraubenschlüsselbande. Sie erinnerte sich, dass Eine Welt ein Leichentuch über die vier in Stein gehauenen früheren US-Präsidenten am Mount Rushmore hatte fallen lassen, als der amtierende Präsident dort gerade eine Rede hatte halten wollen. Diese Meldung hatte es bis in die Abendnachrichten geschafft.
    » Stewie«, sagte sie froh, » du bist richtig.« Ihre Augen ruhten auf ihm, während er eine weitere Nagelspirale ins Holz trieb und sich einem neuen Baum zuwandte.
    » Wenn du mit dem da fertig bist, will ich mit dir schlafen«, sagte sie mit belegter Stimme. » Hier und jetzt, mein süßer, verschwitzter … Gatte.«
    Stewie drehte sich um und lächelte sie an. Sein Gesicht glänzte, und seine Muskeln waren vom Schwingen des Vorschlaghammers mächtig geschwollen. Sie zog sich das T-Shirt über den Kopf und stand erwartungsvoll da. Ihre Lippen waren geöffnet, ihre Beine angespannt.
    Stewie trug seinen Rucksack nun selbst und hatte aufgehört, Nägel ins Holz zu schlagen. Dicke schwarze Gewitterwolken trieben regenschwer über den Spätnachmittagshimmel. Die beiden
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