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Wie keiner sonst / ebook (German Edition)

Wie keiner sonst / ebook (German Edition)

Titel: Wie keiner sonst / ebook (German Edition)
Autoren: Jonas T. Bengtsson
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paar Metern dreht sie sich noch einmal um. Unsere Blicke treffen sich, sie blinzelt. Dann wirft sie sich um meinen Hals.
    Meine Schwester ist größer geworden, man kann schon ahnen, wie sie als Erwachsene aussehen wird. Ihr Gesicht ist leicht geschminkt.
    »Wissen Papa und Mama, dass du hier bist?«, fragt sie, als sie mich endlich loslässt.
    »Nein, und es ist wohl besser, wenn du es ihnen nicht erzählst.«
    »Das wird schwer …« Sie beißt sich auf die Unterlippe, wie sie es immer getan hat, wenn sie etwas nicht wusste oder ihren Vater um ein Spielzeug anbettelte.
    »Dann erzähle ich ihnen auch nichts von der Schminke«, sage ich, und sie lacht.
    »Ich muss eine Zeit lang weg.«
    »Du warst doch die ganze Zeit weg, Papa und Mama waren stinksauer …«
    »Weit weg, meine ich. Ganz weg. Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme.«
    Sie sieht mich mit ihren großen blauen Augen an, sie sind noch heller, als ich sie in Erinnerung habe.
    Sie will etwas sagen, aber ich hebe sie hoch, drücke sie fest an mich und trockne meine Augen an ihrer Jacke.
    »Sehe ich dich wieder?«, fragt sie.
    »Natürlich. Aber ich weiß nicht, wann.«
    »Muss ich erst erwachsen werden?«
    »Ja, du musst erst erwachsen werden.«
    Sie nickt. Ein Mädchen ruft sie. Sie küsst mich auf die Wange und läuft zu ihren Freundinnen.

I ch stehe vor Elsebeths Wohnung auf der Straße und hüpfe auf und ab, um warm zu bleiben. Der Wind raucht meine Zigaretten, Regentropfen drohen sie zu löschen. Gerade will ich wieder hineingehen, als ein Kastenwagen mit deutschem Nummernschild um die Ecke kommt. Er fährt zuerst vorbei, dann kommt er im Rückwärtsgang zurück.
    Der Wagen hat einen großen Kratzer an der Seite, der mehrere Schichten Lack enthüllt. Er ist einmal gelb, einmal braun und einmal blau gewesen.
    An der Seite steht auf Deutsch und in großen Buchstaben: »Ergüls Obst und Gemüse«.
    Der Fahrer steigt aus, ein großer Mann in einem selbstgestrickten Pullover, dessen Maschen bis zum Äußersten gedehnt sind. Er öffnet die Hecktüren, es riecht nach verdorbenem Gemüse.
    Der Fahrer hilft mir, die Bilder hinauszutragen, er nimmt drei auf einmal, trägt sie mit ausgestreckten Armen, sie lehnen an seinem Bauch. Er stellt sie so in den Wagen, dass sie nicht umfallen. Bevor er sich wieder ans Steuer setzt, drückt er meine Hand, seine fingerlosen Wollhandschuhe kitzeln meine Handfläche. Ich schaue dem Wagen hinterher, bis er um die Ecke fährt.

D as Licht der Autoscheinwerfer zieht in wenigen Sekunden vorbei, gefolgt vom Geräusch der Reifen auf dem nassen Asphalt.
    Ich gehe den Schotterweg hinauf, auf die Plexiglastür zu. Ich klingele, das Schloss summt, und ich trete ein.
    Die Frau an der Rezeption hat schwere Augen nach einer langen Wacht oder nach einer Weihnachtsfeier am Abend zuvor.
    »Ich habe eine Verabredung«, sage ich. Sie tippt den Namen meines Vaters in den Computer und schüttelt den Kopf.
    »Sind Sie sicher, dass es heute ist?«
    »Es ist nicht das erste Mal, dass sie vergessen, einen Termin einzutragen.«
    Sie probiert es noch einmal.
    »Wenn Ihre Verabredung nicht eingetragen ist, …«
    »Können Sie nicht jemanden anrufen? Die Oberärztin vielleicht?«
    »Das dürfen wir nur in Notfällen tun.«
    »Heute ist Heiligabend. Ich möchte bloß gern meinen Vater sehen, ich habe es ihm versprochen.«
    Sie sieht mich an, hofft, dass ich aufgebe und sie mit ihrem Krimi allein lasse, den sie so unter die Theke geschoben hat, dass ich nur die blutrote Ecke mit dem aufgedruckten Einschussloch sehe.
    »Da kann ich leider nichts tun, glaube ich«, sagt sie.
    Ich bleibe stehen.
    Wenn ich nur schreien würde. Wenn ich Papiere und Kugelschreiber zu Boden fegen würde, dann könnte sie den roten Alarmknopf neben ihren Knien drücken, auf dem ihr Zeigefinger seit einer Weile ruht.
    Aber ich bleibe ruhig, ich sehe ihr in die Augen, ohne zu starren.
    »Ich möchte so gern meinen Vater sehen.«
    Ich bewege mich nicht vom Fleck.
    Sie will noch mehr sagen, aber dann zuckt sie resigniert mit den Schultern.
    Ihr Finger verlässt den Alarmknopf, stattdessen drückt sie auf die Sprechanlage.
    »Mikkel, kannst du mal runterkommen?«
    Ich warte auf dem Sofa, blättere drei Zeitungen durch, bevor ein junger Mann mit Namensschild und Pferdeschwanz kommt.
    Er führt mich durch die Abteilungen, die ich inzwischen kenne. Von Abteilung E hinunter zu Abteilung R. Durch Q und V. Die Gänge sind geschmückt. Schiefe Weihnachtsherzen und Papiergirlanden,
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