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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Beklemmung gequält. Obwohl ihr Vater sich sehr für ihre Arbeit in Berea interessierte und ihre Gespräche höflich und respektvoll, wenn auch distanziert abliefen, kehrten bereits in der zweiten Nacht des Besuchs ihre Kopfschmerzen zurück. Sie schlief unruhig, ihre Träume waren von fiebrigen Bildern erfüllt – eine zischende Katze auf dem Fenstersims, der Geruch ihres Atems im Zimmer. Ein Geruch, der sich schließlich in den Duft ihres eigenen Körpers auf Tobias’ Hand verwandelte, nachdem er sie berührt hatte. Er erschien ihr plötzlich und unerwartet im Traum, und sie griff mit einer schmerzlichen Begierde nach ihm. Doch genauso plötzlich wandte er ihr den Rücken zu, taub für ihr Flehen und nun in den schwarzen Mantel und Hut gekleidet, den ihr Vater stets trug. Er lief vor ihr fort, vor ihrem Sehnen, ihrer Schwäche, ihrem weiblichen Duft.
    Nach den Ferien, zurück in Berea, ließen die Träume und Kopfschmerzen nicht nach. Stundenlang lag Georginea in ihrem Zimmer im Wohnheim, zwischen traumdurchsetztem Schlaf und banger Wachheit schwebend, und starrte an die Decke. Wenn etwas an ihrem Fenster kratzte, drehte sie kaum den Kopf, da sie sicher war, dass es eine zischende, gelbäugige Katze wäre. Oder eine wütende Krähe, die in einer Astgabel des riesigen Zuckerahorns vor dem Wohnheim aus dem Schlaf gerissen worden war. Beim Morgengebet nach Nächten wie diesen weinte sie lautlos. Zwar wischte sie sich die Tränen immer so unauffällig wie möglich ab, beförderte aber dennoch Gerüchte und Getuschel über die seltsame Andacht der Miss Ward, die Tiefe ihrer Religiosität.
    Jahre vergingen, und Georgineas Erinnerung trübte sich. Tobias Jewells Augen und seine schöne Tenorstimme verblassten, verschwammen in ihrem Gedächtnis. Alles verschwamm, als ein neues Jahrhundert begann und die Geisteshaltung in Berea sich allmählich veränderte. Georginea bewegte sich in einer Art Nebel durch ihre Tage. Ihre Kopfschmerzen dauerten an, gemeinsam mit ihren tränenreichen Gebeten. Ihre ungewisse Ahnung, dass etwas schiefgegangen, etwas schrecklich gescheitert war – ein Gefühl, das sie mit jedem Atemzug in ihren Körper einsog – wuchs zu einer Überzeugung: Das Scheitern war ihr eigenes.
    Im Frühling 1908 beschloss das College, sich einem »Day Law« getauften Gesetz des Staates Kentucky zu fügen, das ein integriertes Bildungswesen untersagte. Das müsse sein oder es drohe der finanzielle Ruin, behauptete der Rektor steif und fest, und so wurde eine separate Einrichtung für schwarze Studenten gegründet, das Lincoln Institute, und Berea richtete seine Aufmerksamkeit künftig auf die weißen »Kinder der Berge«.
    Anfangs beteiligten sich neben Miss Ward einige weitere Fakultätsangehörige am heimlichen Widerstand gegen das Day Law. Kurz vor Beginn einer Vorlesung schaltete die teilnehmende Lehrkraft das Licht aus, und wenn ein Student, auf die gemächlich geäußerte Bitte des Dozenten hin, aufstand, um es wieder anzuknipsen, waren unterdessen zwei oder drei ehemals eingeschriebene schwarze Studenten hinten im Raum aufgetaucht. Daraufhin fuhr der Dozent mit seinem Unterricht fort und gab vor, ihre Anwesenheit nicht zu bemerken. In den Anfangstagen des Day Law, als die Collegeverwaltung noch eher gewillt war, ein Auge zuzudrücken, kam so etwas recht häufig vor.
    Im Laufe der Zeit allerdings konnte ein solches Verhalten rasch zur Entlassung führen. Georginea wusste das. Nach und nach jedoch, während sie bis in die frühen Morgenstunden Blake und Byron las, abwechselnd schlief und wachte, zwischen verblassten Bildern von Tobias’ Gesicht und einem wütenden weißhaarigen Gott schwebte, von hin und her schwingenden Leichnamen und düsteren Männern mit schwarzen Hüten, begriff sie etwas sehr Einfaches. Sie alle, angefangen mit ihrem Vater und weiter mit Bereas derzeitiger Verwaltung und vielen der Dozenten, hatten Unrecht. Fast zwanzig Jahre lang war sie deren williges Werkzeug gewesen. Doch das würde sich nun ändern. Sie ließen ihr keine Wahl. Die Männer in den schwarzen Mänteln, die Träume und zermürbenden Kopfschmerzen. Tobias’ liebes Gesicht und seine Stimme, die ihr entschwanden wie ein stiller Fluss.
    Und so marschierte sie eines Aprilmorgens in den Unterrichtsraum und sagte laut zu Bereas altem Hausmeister: »Lassen Sie das Licht an, Winerip.« Zu dem jungen Mann und der jungen Frau, Winerips Sohn und Tochter, die verstohlen im Flur standen, sagte sie: »Kommen Sie jetzt herein, es ist
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