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White Horse

White Horse

Titel: White Horse
Autoren: Alex Adams
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Nick
auch –, und ich muss mich um meine Tochter kümmern.
    Der Morgen dämmert. Aus dem Morgen wird Mittag.
    Die Straßen Griechenlands schmiegen sich an die Landschaft wie
bequeme Jeans. Wir folgen ihren Kurven und stoßen auf die Ruine einer
Zementfabrik, die über dem Meer aufragt. In die Flanken des Berges hinter der
verlassenen Anlage haben Männer in Schutzhelmen Terrassen und andere Wunden
gesprengt. Im Wasser rosten Frachtkähne mit kyrillischen Inschriften vor sich
hin und warten auf Ladung, die nie mehr kommen wird. Auf den niedrigen Decks
liegen Knochen verstreut, die Überreste längst verwester Toter. Wolken aus
Zementstaub, hochgewirbelt von einer aufkommenden Meeresbrise, riechen nach
frisch gegossenem Straßenpflaster. Ich schütze den Kopf meines Babys sorgsam
gegen den Schmutz und die sengende Sonne.
    Von den roten Narben abgesehen, ist Irini bleich. Als ich ihre Stirn
berühre, lächelt sie.
    Â»Ich bin okay. Du?«
    Ich glaube ihr nicht. Sie müsste schweißgebadet sein, aber ihre Haut
fühlt sich trocken an.
    Â»Alles in Ordnung.«
    Lügen. Wir wissen es beide, aber wir sind zu stolz, uns das
gegenseitig einzugestehen. Ich verliere Blut, und sie ebenfalls. Nur mein Baby
hat eine rosige, neue, lebendige Haut.
    Während unseres Fußmarsches bleiben wir meist stumm. Gespräche
kommen erst auf, wenn wir rasten. So wie jetzt, als wir die Zementfabrik ein
Stück hinter uns gelassen haben und im Schatten eines Olivenbaums anhalten.
Seine Früchte sind grün und daumendick, aber die Ernte wird verrotten, weil
niemand da ist, der sie pflückt. Wir trinken Wasser aus Flaschen, die wir an
einem der Brunnen am Straßenrand gefüllt haben. Essen Schokoriegel gegen den
Hunger, der immer seltener kommt. Da Baby meine Milch schneller trinkt, als der
Körper für Nachschub sorgen kann, rühre ich am Straßenrand Säuglingsmilchersatz
an. Die Kleine ist brav. Munter. Sie kennt nur die Straße, und der wiegende
Rhythmus meiner Schritte besänftigt sie stärker als mich. Ich sehne mich nach
einem eigenen Heim, nach einem Stück Land, das ich nicht gleich wieder aufgeben
muss, nach einem Ort, der noch nicht vom Tod entweiht ist.
    Â»Was ist mit dir geschehen?«, frage ich Irini, als unsere
eingefallenen Bäuche wieder gefüllt sind.
    Â»Ich weiß es nicht. Ich … bin gestorben. Dann wieder nicht.«
    Â»Und dazwischen?«
    Â»Die Götter kamen mich holen und machten mich ganz.«
    Â»Du blutest immer noch.«
    Â»Ein bisschen ganz … genug ganz, um dir und dem Baby zu helfen.«
    Mehr als genug. Wie dankt man jemanden, der von den Toten
zurückkehrt, um dich zu retten?

FÜNFUNDZWANZIG
    Das erste Anzeichen von Leben ist eigentlich keines:
verlassene Autos und Motorräder, die am Rand der gewundenen Straße vor sich hin
rosten. Es fällt auf, dass hier nirgends Leichen herumliegen, obwohl sie
inzwischen den Hauptbestandteil an städtischem Müll bilden. Knochen und
angenagte Kadaver sind auf den Straßen so allgegenwärtig wie früher leere
Burgerschachteln und Bierdosen. Aber nicht hier.
    Irini schirmt die Augen mit einer Hand ab und liest. Dann verkündet
sie mit einem Lächeln die gute Nachricht. »Agria. Das ist der Ort, den wir suchen.«
    Mir wird schwindlig vor Erleichterung, und ich sinke gegen einen
verrosteten Wagen. Wir sind da. Wir sind wirklich da.
    Â»Hier sind deine Vorfahren daheim, Kleines.« Ich drücke die Lippen
in das weiche Haar meiner Tochter. Sie gibt kleine Saug- und Schmatzgeräusche
von sich. Dann rollt die Furcht heran, rollt heran auf einem Karren mit
rumpelnden Holzrädern, und der schreckliche Kutscher auf dem Bock hebt die
Peitsche, um sie auf mich niedersausen zu lassen.
    Â»Ich kann da nicht hin.«
    Â»Du musst.«
    Â»Was, wenn sie tot sind?«
    Â»Dann sind sie tot, und du hast nichts verloren.«
    Â»Doch – meine letzte Hoffnung.«
    Â»Hoffnung ist, was du in deinen Armen hältst.«
    Ihre Worte entfesseln den Sturm, der sich in mir zusammengebraut
hat. Ich grabe die Zähne in meine Unterlippe, bis der körperliche Schmerz die
Furcht überdeckt und zu einem dumpfen Pochen werden lässt. Ich nicke. Das hier
ist die Realität. Nick war ein schöner, ein herrlicher Traum, aber nun lebt er
nicht mehr, und vielleicht bin auch ich bald tot. Ich schaue mein Mädchen an
und weiß, dass ich mein Leben ohne
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