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White Horse

White Horse

Titel: White Horse
Autoren: Alex Adams
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verzehrt mich die Neugier bei lebendigem Leib. Meine
Zehen schieben sich unter den Griff. Schmerz zischt wie ein glühender Blitz
durch meine Hüfte. Ein Krampf. Ich entspanne mich, warte, bis der Schmerz
abklingt, und ziehe das Kästchen langsam nach vorn, bis ich es mit der Hand
erreichen kann. Es hat kein Schloss. Nur einen silbrigen Schnappverschluss.
Seltsam, dass er so lässig mit einem Behältnis umgeht, das ihm offensichtlich
viel bedeutet. Der Deckel klappt auf, fast zu bereitwillig, als habe er auf
diesen Moment gewartet. Das Kästchen will, dass ich seinen Inhalt sehe, aber das
befreit mich nicht von meiner Schuld. Normalerweise schnüffle ich nicht in
fremden Sachen herum, doch für den Schweizer mache ich eine Ausnahme. Er würde
im umgekehrten Fall genauso handeln.
    Die Metallbox ist bis oben hin mit Fotografien gefüllt. Verblassende
Polaroidfotos, vergilbte Aufnahmen mit aufgebogenen Rändern. Sie zeigen
Menschen, deren Modestil der Vergangenheit angehört, irgendwann wohl aber
wieder im Trend gewesen wäre. Die Personen wechseln, aber alle wirken blond,
nordisch, schlank und sportlich. Die Familie des Schweizers, nehme ich an.
    Meine Finger wühlen sich durch die Blätter seines Stammbaums. Eines
fällt mir auf: So viele Fotos, und er selbst ist auf keinem einzigen zu sehen.
    Es hat mich stärker gemacht. Besser.
    Immer schneller gehe ich die Bilder durch, suche nach Hinweisen. Was
hat ihm White Horse angetan? Wie hat es ihn verändert? Dann stoße ich auf ein
grobkörniges Foto, das aus irgendeiner Zeitung stammt, und meine Lippen werden
trockener, als sie es ohnehin sind. Ich versuche die Puzzleteile so zusammenzusetzen,
dass sie in einem Universum, das noch nicht vollkommen verkehrt ist, einen Sinn
ergeben.
    George P. Pope und eine kühle, schlanke Blondine. Er grinst in die
Kamera, aufgeblasen und stolz – selbst auf diesem Standbild –, während sie den
Eindruck erweckt, als wäre sie gern überall, nur nicht da, wo sie gerade ist.
Oh, sie lächelt, aber es ist ein geschmerztes Lächeln. Ich kenne diesen
Ausdruck. Ich habe ihn auf den letzten hundert Aufnahmen gesehen. Mindestens.
Ich habe ihn in einem Labor gesehen. In einer Aufzugkabine. Er wiederholt sich
in den Zügen ihres Bruders. Vielleicht ist es auch ein Cousin oder ein junger
Onkel, aber ich tippe auf einen Bruder. Warum sonst sollte er all diese
Erinnerungen rund um die Welt mit sich herumtragen?
    Ich wünsche mir auch Fotos. Ich möchte meine Erinnerungen auf
Bildern festhalten. Nick und unser Kind und die Kinder, die uns wohl nicht mehr
vergönnt sein werden. Ich möchte diese Bilder später anschauen und mich über
die Dinge freuen, die wir in jungen Jahren machten. Aber ein solches Später
wird es nie geben. Sie haben mir die Zukunft genommen, dieser egomanische
Scheißkerl auf dem Foto und der Bastard, der wie eine Schlange im Gras darauf
lauert, mir das Einzige zu entreißen, was mir von der Liebe meines Lebens
geblieben ist.
    Ich kann nicht weinen. Der Schmerz ist zu frisch. Ich kann nur am
Boden kauern wie eine seelenlose Marionette und all diese Fotos in kleine
Fetzen zerreißen. Sie kaputt machen wie die aus den Fugen geratene Welt. Dem
Schweizer die Erinnerungen stehlen, so wie er mir die Erinnerungen stiehlt.
    Und plötzlich sitze ich, obwohl meine Augen trocken sind, mitten in
einem See, der aus meinem Körper hervorbricht. Ich weiß, was das bedeutet – die
Ankunft meines Babys.

    Hart und schnell kommen die Wehen. Zu schnell vielleicht. Ich
vermag das nicht abzuschätzen. Schweiß und Tränen laufen mir über das Gesicht,
ich ringe nach Luft und suche keuchend Erleichterung von den Schmerzen. Aber
mit jedem herrlichen Atemzug öffnet sich mein Körper etwas weiter.
    Bleib noch ein wenig in meinem Bauch, denke ich.
    Aber es wird Zeit für mich.
    Hier draußen ist es nicht sicher.
    Ich will die Welt sehen.
    Ach, Baby, es gibt keine Welt mehr. Nur noch
Zerstörung und Tod.
    Was ist Tod?
    Ich bete, du lernst ihn nie kennen.
    Ich habe die weite Reise vergeblich unternommen. Für einen Toten. Um
mein Kind allein auf einem Boot zu gebären.
    Meine Tochter kommt im dunkelsten Moment meines Lebens. Wir weinen
gemeinsam.

    Mitten in meinem Delirium erscheint Nick.
    Sie ist wunderbar, sagt er.
    Ihr winziges Händchen schließt sich um meinen Finger. Alles ist da,
wo es hingehört. Nichts fehlt. Nichts zu
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