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Wer war Jesus

Wer war Jesus

Titel: Wer war Jesus
Autoren: Gerd Luedemann
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davon, dass die Frauen, die das Grab leer fanden, von ihrer Entdeckung
     niemandem |39| etwas gesagt haben. Das darf dahingehend gedeutet werden, dass Markus seinen Lesern erklärt, warum sie von einem Begräbnis
     oder einem leeren Grab vorher nichts erfahren haben. Erst die aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts stammenden Evangelien
     nach Matthäus, Lukas und Johannes, die allesamt den Bericht des Markus verarbeiten, sprechen von einer Ausbreitung der Kunde
     vom leeren Grab Jesu unter den Jüngern. Aber diese Berichte stehen in keinerlei historischem Zusammenhang mit dem, was nach
     dem Tode Jesu wirklich in Jerusalem geschehen ist.
    Auch jegliche Hinweise auf eine Verehrung des Grabes oder auf Wallfahrten nach Jerusalem fehlen für die Zeit bis zur Mitte
     des 2. Jahrhunderts. Nach dem ersten jüdischen Aufstand mit der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. war nicht nur der
     jüdischen Gemeinde, sondern auch der jungen Kirche der bisherige Mittelpunkt genommen worden. Angesichts der Entweihung des
     heiligen Ortes hatte Jerusalem nunmehr wenig zu bieten. Die Situation wurde für Juden und Judenchristen noch schwieriger,
     als Kaiser Hadrian im Jahre 135 nach dem zweiten jüdischen Aufstand das seit 70 in Trümmern liegende Jerusalem als römische
     Kolonie namens Aelia Capitolina neu aufbaute und den beschnittenen Juden bei Todesstrafe verbot, sie zu betreten.
    Ein erstes sichtbares Interesse für Jerusalem finden wir gegen Mitte des 2. Jahrhunderts bei Bischof Melito von Sardes, der
     sich auf einer Palästinareise ein Verzeichnis der alttestamentlichen Bücher besorgte. In einer erst vor einigen Jahrzehnten
     wieder gefundenen Predigt »Vom Passah« klagt er das Volk Israel des Gottesmordes an, geht indes an keiner Stelle auf das Grab
     Jesu ein. Man hat aus seiner Bemerkung, dass Jesus inmitten von Jerusalem gekreuzigt worden sei, geschlossen, er habe auch
     dessen Grab besichtigt; die Grabestradition müsse also der Gemeinde bekannt gewesen sein. Aber die Aussage über die Kreuzigung
     Jesu inmitten Jerusalems darf nicht zu archäologischen Folgerungen missbraucht werden, denn sie ist rhetorisch bedingt: Der
     Heidenchrist Melito |40| will zeigen, dass die Juden sich nicht einmal gescheut hätten, Jesus inmitten der Stadt umzubringen.
    Trotz all dieser Erkenntnisse haben in den letzten Jahren die Pilgerreisen nach Jerusalem noch zugenommen, und die Besucherzahlen
     belaufen sich zur Zeit auf ca. zwei Millionen pro Jahr. Das Gros dieser Wallfahrer sind Christen. Jerusalem, eine Stadt mit
     rund einer halben Million Einwohnern, von denen nur 2,5 % den christlichen Konfessionen angehören, hat auch eine Bedeutung
     darin, dass es nach Mekka und Medina die drittwichtigste Stadt für den Islam ist. Mohammed entschwand der Überlieferung zufolge
     von Jerusalem aus – obwohl er es nie besucht hatte – mit seinem Streitross in den Himmel. Jerusalem bleibt aber vor allem
     der heimliche Mittelpunkt der gesamten Christenheit, die inzwischen mehr als zwei Milliarden Menschen umfasst. Mitglieder
     praktisch aller verschiedenen Christengemeinschaften sind in Jerusalem vertreten: von den Orthodoxen über die Katholiken bis
     hin zu den unterschiedlichen protestantischen Kirchen.
    In Jerusalem wird heute jede Lebens- und Leidensstation Jesu identifiziert, und jeden Freitag findet eine Prozession auf der
Via Dolorosa
zum angeblichen Ort der Kreuzigung Jesu statt, obwohl inzwischen feststeht, dass Jesus diesen Weg niemals gegangen ist. Das
     in der Grabeskirche zu besichtigende Grab Jesu dient den meisten Christen heute wie zur Zeit Konstantins als handfester Beweis
     für Jesu Auferstehung, obwohl durchschlagende Gründe endgültig erwiesen haben, dass dieser Ort als Begräbnisstätte Jesu eine
     reine Erfindung des 4. Jahrhunderts ist. Und nicht nur dies: Jesus ist gar nicht auferstanden, so dass man sagen muss: Hier
     wird ein nur vermeintlich Auferstandener am falschen Ort verehrt. Zugleich gilt: Auch der christliche Glaube braucht offenbar
     Magie und Nähe zum Heiligen, auch wider bessere Erkenntnis. Im Zweifelsfall siegt die religiöse Gewissheit über das nüchterne
     Gewissen, und das wird vermutlich auch erst einmal so bleiben. Allerdings ist der christliche Glaube damit für den Menschen
     in der Moderne zu einem Aberglauben geworden, den man nur noch verstehen, aber nicht mehr akzeptieren kann.

|41| CHRISTLICHE JUDENFEINDSCHAFT
    9. Wer war schuld am Tode Jesu? 1
    Die Anklage, das jüdische Volk
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