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Wer liest, kommt weiter

Wer liest, kommt weiter

Titel: Wer liest, kommt weiter
Autoren: Friedrich Denk
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allem Denken bedeutet, kommt in diesen Büchern jedoch nur am Rande vor. Stattdessen betonen manche Hirnforscher, u.a. Dehaene und Manfred Spitzer, ausdrücklich, daß das Lesen im Gehirn gar nicht vorgesehen sei.
    Auch Ernst Pöppel schreibt schon im ersten Satz seines Beitrags zum Sonderheft Zukunft des Buches in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte vom 8.10.2009: Das Lesen als Kulturtechnik ist eine kreative Leistung des menschlichen Gehirns, die aber durch einen Missbrauch desselben erkauft wird. Denn: Lesen ist von Natur aus nicht vorgesehen gewesen, sondern von Menschen als Kulturtechnik erfunden worden.
    Sind andere viel später erfundene »Kulturtechniken« wie das Fernsehen oder Computerspiele auch ein »Missbrauch« des Gehirns? Und was ist daran schlecht, wenn beim Lesen gleichzeitig verschiedene Areale des Gehirns aktiv sind? Das kann doch für unsere Denkfähigkeit nur gut sein!
    Übrigens fehlt die Erkenntnis, daß man beim Lesen immer denkt, auch in den fünf zwischen 1998 und 2012 erschienenen Büchern über das Denken selbst, die ich dazu konsultiert habe. In keinem ist vom Lesen die Rede, obwohl sie doch alle gelesen und »bedacht« werden wollen. Das ist erstaunlich.
     
    Als erstes Beispiel dafür, wie man beim Lesen denken und nachdenken kann, stehe hier ein kleines Gedicht, das ich oft mit meinen Schülern gelesen habe. Ob in einer 5. oder 12. Klasse, ob bei Zehn- oder Achtzehnjährigen, immer fragte ich die Schüler am Anfang der Stunde: »Erinnert ihr euch, wie ihr als Kinder gezeichnet habt, zum Beispiel ein Haus? Wie sieht ein solches Haus aus?« Dann zeichneten zwei Schüler »ihre« Häuser links und rechts an die Tafel, bevor ich in die Mitte schrieb:
Reiner Kunze: kinderzeichnung (1960)
 
Du hattest ein viereck gemalt,
darüber ein dreieck,
darauf (an die seite) zwei striche mit rauch –
fertig war
DAS HAUS
    Nun verglichen wir die Zeichnung von Reiner Kunzes Tochter mit unseren Zeichnungen, die oft Türen und Fenster hatten. Dann sprachen wir über das Gedicht. Darin denkt ein Vater darüber nach, wie seine Tochter ein Haus gezeichnet hatte und schnell damit fertig war. Für sie jedenfalls war die Zeichnung, die sie dem Vater dann wohl überreicht hat, mit nur vier Einzelheiten  – Haus, Dach, Schornstein, Rauch – vollendet.
    Das Gedicht aber, das bemerkt jetzt der eine oder die andere, ist es noch nicht. Es fehlt noch ein Gedanke zu dieser Erinnerung. Diesen Gedanken enthält die zweite Strophe, die ich jetzt erst an die Tafel schreibe:
Man glaubt gar nicht,
was man alles
    Jetzt fehlen noch zwei Worte, sage ich den Schülern – und fast immer hat die eine oder der andere die beiden Worte gefunden:
nicht braucht
    Das Gedicht beginnt im Plusquamperfekt (du hattest gemalt), beschreibt das Erfolgsgefühl der Tochter im Imperfekt (fertig war das Haus) und die Schlußfolgerung des Vaters im Präsens: Man glaubt gar nicht ...
    Dieser Schlußsatz gilt nicht nur für diese Kinderzeichnung und für die dichte und knappe Sprache von Reiner Kunze. Er gilt für vieles in unserem Leben.
    Marc Aurel, geb. 121, von 161 bis 180 Kaiser des römischen Weltreichs, hat das in der 24. Notiz im IV. Buch seiner Selbstbetrachtungen so gesagt: Ref 3
    Das meiste nämlich von dem, was wir sagen und tun, ist nicht notwendig, und wenn man es wegläßt, wird man mit schönerer Mußezeit und geringerer Unruhe leben. Man muß also bei jeder Gelegenheit sich daran erinnern: ist vielleicht dies etwas Unnötiges?
    Am Ende der Stunde wußten manche Schüler das Gedicht schon auswendig, die anderen lernten es gern als Hausaufgabe.
    In der nächsten Stunde sprachen wir noch einmal über dieses Gedicht und über die bedeutungsvolle Pause nach alles, bevor ich eine, dann zwei, dann drei, dann alle fünf Zeilen eines Gedichts von Bertolt Brecht an die Tafel schrieb:
Bertolt Brecht (1898–1956): Der Rauch (1953)
 
Das kleine Haus unter Bäumen am Sece.
Vom Dach steigt Rauch.
Fehlte er
Wie trostlos dann wären
Haus, Bäume und See.
    Wenn wir die beiden Gedichte vergleichen (beide sind übrigens, wie die meisten literarischen Texte in diesem Buch, in der Schrift Cambria gesetzt), könnten wir uns fragen, welches der Gedichte uns besser gefällt. Doch soll man in der Kunst überhaupt vergleichen? Vergleiche sind unklug, wenn sie uns den Blick für die Einmaligkeit jedes Kunstwerks erschweren (bei Menschen gilt das noch mehr). Vergleiche können aber auch dazu beitragen, die einzelnen Kunstwerke besser
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