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Wenn Ich Bleibe

Titel: Wenn Ich Bleibe
Autoren: Gayle Forman
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immer gehalten hatte. Dann erzählt sie mir von dem Rockstar, der um meinetwillen im Krankenhaus gesungen hat.
    Natürlich weiß ich das meiste schon, aber das kann
Kim ja nicht ahnen. Außerdem gefällt es mir, wie sie mir die Ereignisse schildert. Es gefällt mir, dass Kim ganz normal mit mir redet, genauso wie meine Großmutter vorhin. Sie schwatzt nur drauflos und erzählt mir Geschichten, als ob wir auf unserer Veranda säßen und Kaffee trinken würden – für Kim hätte es natürlich ein eisgekühlter Karamell-Frappuccino sein müssen – und uns den neuesten Tratsch erzählten.
    Ich weiß nicht, ob man sich als Toter an Dinge erinnert, die zu Lebzeiten geschehen sind. Mir persönlich scheint das ziemlich unlogisch zu sein. Ich glaube eher, dass Totsein so ist wie die Zeit, bevor man auf die Welt kam, also nichts als eine einzige, große Leere. Aber für mich sind die Jahre vor meiner Geburt gar nicht leer. Immer wieder haben meine Mutter oder mein Vater Geschichten erzählt, wie mein Vater seinen ersten Lachs gefangen hat, oder wie meine Mutter dieses unglaubliche »Dead Moon«-Konzert miterlebt hat, beim ersten Date mit meinem Vater. Dann überkommt mich ein überwältigendes Déjà-vu. Es ist nicht nur die Gewissheit, dass ich die Geschichten schon so oft gehört habe, sondern das Gefühl, dabei gewesen zu sein. Ich kann mich selbst sehen, wie ich am Ufer saß, als mein Vater diesen pinkfarbenen Brocken von einem Fisch an Land zog, obwohl mein Vater damals erst zwölf Jahre alt war. Ich kann die Rückkoppelung hören, die aus den Lautsprechern kam, als »Dead Moon« im X-Ray D.O.A. spielte, obwohl ich »Dead Moon« niemals live
erlebt habe und das X-Ray-Café dichtmachte, lange bevor ich geboren wurde. Aber manchmal fühlen sich diese fremden Erinnerungen so real an, so innerlich, so persönlich, dass ich sie mit meinen eigenen verwechsle.
    Ich habe nie jemandem von diesen »Erinnerungen« erzählt. Meine Mutter hätte vermutlich behauptet, dass ich tatsächlich dabei gewesen sei, als eins der Eier in ihrem Eierstock. Mein Vater hätte lachend gesagt, dass er und meine Mutter mich einmal zu oft mit ihren Geschichten gequält und mich dabei versehentlich einer Gehirnwäsche unterzogen hätten. Und meine Großmutter hätte wahrscheinlich gedacht, dass ich als Engel dort gewesen war, bevor ich mich entschieden hatte, das Kind meiner Eltern zu werden.
    Aber jetzt denke ich darüber nach. Und ich hoffe. Denn wenn ich gehe, will ich mich an Kim erinnern. Und ich will sie so in Erinnerung bewahren: wie sie mir komische Geschichten erzählt, wie sie sich mit ihrer verrückten Mutter streitet, wie sie von Punks bewundert wird, wie sie sich dieser Situation stellt und kleine Nischen aus purer Kraft in sich entdeckt, die sie nicht zu haben glaubte.
    Adam ist eine andere Sache. Mich an Adam zu erinnern, wäre so, als würde ich ihn immer wieder aufs Neue verlieren, und ich bin mir nicht sicher, ob ich das – neben allem anderen – ertragen könnte.
    Kim berichtet mir gerade von der »Operation Ablenkung«, als Brooke Vega und ein Dutzend bunt gemischter
Punks das Krankenhaus besetzten. Sie erzählt mir, dass sie große Angst hatte, Ärger zu bekommen, aber dass sie sich plötzlich wie neu geboren fühlte, als sie durch die Türen der Intensivstation stürzte. Als der Wachmann sie packte, hatte sie überhaupt keine Angst mehr. »Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was wohl das Schlimmste sei, das mir passieren konnte. Ich hätte im Gefängnis landen können. Meine Mutter hätte einen Nervenzusammenbruch bekommen können. Man hätte mir ein Jahr lang Hausarrest aufbrummen können.« Sie schweigt einen Moment lang. »Aber verglichen mit dem, was dir heute passiert ist, ist das alles völlig bedeutungslos. Ich würde sogar in den Knast gehen, wenn ich dich dadurch behalten könnte.«
    Kim erzählt mir das, um mich ans Leben zu binden. Sie erkennt vermutlich nicht, dass sie mich aus einem verqueren, unerklärlichen Grund mit ihrer Bemerkung freigibt, wie es Gramps getan hat. Ich weiß, dass es schrecklich für Kim sein wird, wenn ich sterbe, aber ich habe ihr gut zugehört: Sie hat keine Angst. Und sie denkt, ein Leben im Gefängnis sei leichter als ein Leben ohne mich. Da weiß ich, dass Kim es verwinden wird. Mich zu verlieren, wird schmerzen; es wird ein Schmerz sein, der ihr anfangs unwirklich vorkommen wird, und wenn er dann real ist, wird er ihr den Atem nehmen. Der Rest des Schuljahrs wird vermutlich die Hölle
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