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Wen die Goetter strafen

Titel: Wen die Goetter strafen
Autoren: Sidney Sheldon
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möge.
    Doch jedes Mal, wenn die Pflegeeltern in spe Kemal sahen, tuschelten sie sich zu: »Schau, er hat nur einen Arm.« Und dann gingen sie weiter.
    Jeden Freitag lief es auf das Gleiche hinaus, doch Kemal wartete nach wie vor voller Hoffnung, wenn die Erwachsenen die angetretenen Kandidaten musterten. Aber sie suchten immer andere Kinder aus. Geknickt und beschämt stand er da, wenn er wieder einmal übergangen worden war.
    Dabei wollte Kemal unbedingt wieder eine Familie um sich haben. Er versuchte alles, was ihm einfiel, damit es ihm gelang. An einem Freitag lächelte er die Erwachsenen strahlend an, um ihnen zu zeigen, was für ein netter, freundlicher Junge er sei. Am nächsten tat er so, als wäre er mit irgendetwas beschäftigt, als wäre es ihm gleichgültig, ob sie ihn auswählten oder nicht, weil sie sich ohnehin glücklich schätzen könnten, wenn sie ihn bekämen. Ein andermal schaute er sie flehentlich an, betete insgeheim darum, dass sie ihn mit zu sich nach Hause nehmen möchten. Aber Woche um Woche wurde immer jemand anders ausgewählt und mitgenommen, bekam ein anderes Kind ein gemütliches Zuhause und eine glückliche Familie.
    Wie durch ein Wunder hatte sich dank Dana alles verändert. Sie hatte ihn gefunden, als er sich auf den Straßen von Sarajevo herumgetrieben hatte. Nachdem Kemal vom Roten Kreuz ausgeflogen und zu dem Waisenhaus gebracht worden war, hatte er Dana einen Brief geschrieben. Und zu seiner Überraschung hatte sie nach einer Weile im Waisenhaus angerufen und gesagt, sie wolle Kemal nach Amerika mitnehmen und bei sich behalten. Kemal war in seinem ganzen Leben noch nie so glücklich gewesen wie in diesem Augenblick. Ein Traum war für ihn in Erfüllung gegangen, ja sein neues Dasein übertraf noch seine kühnsten Vorstellungen.
    Kemals Leben hatte sich von Grund auf verändert. Jetzt war er dankbar dafür, dass ihn vorher niemand ausgewählt hatte. Er war nicht mehr allein, er hatte jemanden, der sich um ihn kümmerte. Er liebte Dana von ganzem Herzen, doch ständig trieb ihn auch die schreckliche Angst um, die Ricky Underwood geweckt hatte – dass Dana ihre Meinung ändern und ihn ins Waisenhaus zurückschicken könnte, in die Hölle, der er entronnen war. Ein ums andere Mal plagte ihn der gleiche Traum: Er war wieder im Waisenhaus, und es war Freitag. Die Kinder wurden von den Erwachsenen gemustert, und Dana war auch dabei. Sie betrachtete Kemal und sagte:
Der hässliche kleine Junge da hat nur einen Arm.
Dann ging sie weiter und nahm den Jungen neben ihm mit. Mit tränenüberströmtem Gesicht wachte Kemal hinterher immer auf.
    Kemal wusste, dass Dana es nicht ausstehen konnte, wenn er sich in der Schule mit anderen Kindern anlegte, daher bemühte er sich darum, jedem Streit aus dem Weg zu gehen. Doch er konnte nicht zulassen, dass Ricky Underwood oder seine Freunde Dana beleidigten. Sobald ihnen das klar geworden war, wurden die Beleidigungen nur noch schlimmer – und damit auch die Auseinandersetzungen.
    »Hey, Stöpsel, hast du deinen Koffer schon gepackt?«, empfing ihn Ricky zum Beispiel. »Ich habe heute Morgen in den Nachrichten gehört, dass dich deine böse Stiefmutter nach Jugoslawien zurückschicken will.«
    »Zobisti!«,
brüllte Kemal daraufhin.
    Und schon prügelten sie sich miteinander. Jedes Mal kam Kemal zerschrammt und mit blauem Auge heim, aber wenn Dana ihn fragte, was vorgefallen sei, brachte er es einfach nicht fertig, ihr die Wahrheit zu sagen. Denn er hatte Angst davor, dass genau das eintreten könnte, was Ricky Underwood gesagt hatte, wenn er es ihr erzählte.
    Nun, da Kemal im Büro des Rektors saß und auf Dana wartete, dachte er:
Wenn sie erfährt, was ich diesmal angestellt habe, schickt sie mich bestimmt fort.
Wie ein Häufchen Elend saß er da, und das Herz schlug ihm im Halse.
    Als Dana in Thomas Henrys Büro trat, ging der Rektor mit grimmiger Miene auf und ab. Kemal saß in der anderen Ecke auf einem Stuhl.
    »Guten Morgen, Miss Evans. Nehmen Sie bitte Platz.«
    Dana warf einen kurzen Blick zu Kemal und setzte sich.
    Thomas Henry ergriff ein großes Schlachtermesser, das auf seinem Schreibtisch lag. »Das hat einer unserer Lehrer Kemal weggenommen.«
    Dana fuhr herum und blickte Kemal wütend an.
»Wieso?«,
fragte sie aufgebracht. »Wieso hast du das zur Schule mitgenommen?«
    Kemal blickte zu Dana auf. »Weil ich keine Knarre habe«, versetzte er mürrisch.
    »Kemal!«
    Dana wandte sich an den Rektor. »Kann ich Sie unter vier Augen
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