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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Autoren: Dave Eggers
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im Fach Internationale Studien in der kürzestmöglichen Zeit in der Tasche haben und dann einen Job in Washington bekommen würde. Ich würde eine Sudanesin kennenlernen, und sie würde auch in Amerika studieren, und wir würden ein Paar werden und heiraten und eine Familie gründen, eine einfache Familie mit drei Kindern und bedingungsloser Liebe. Amerika würde uns auf seine Weise zur Heimat werden: Glas, Wasserfälle, Schalen mit leuchtenden Orangen auf sauberen Tischen.
    Der Lost Man schimpfte immer weiter, und einer der Jungen, der mit mir in derselben Maschine aus Kakuma gekommen war, konnte die Provokationen des Alten nicht länger ertragen.
    – Aber du willst doch auch dahin, du Idiot!, schrie er.
    Das war das Seltsame an dem Lost Man: Er war auch auf dem Weg nach Amerika.
    Wir wussten von den Anschlägen auf die Botschaften in Tansania und Nairobi, und nachdem einige Tage vergangen waren, bestärkte sich die Welt immer mehr darin, dass dies das Werk desselben Mannes war. Aber da keine weiteren Anschläge mehr erfolgten, wurde uns klar, dass Amerika nicht im Krieg war, dass es relativ sicher war, dorthin zu reisen. Wir beschlossen, dass wir nun mehr denn je dorthin wollten.
    Nach acht Tagen organisierte ich eine vierköpfige Gruppe von jungen Männern, Sudanesen und Somali, die für uns sprechen sollte. Ich bat um ein Treffen mit dem IOM-Mitarbeiter, der sich alle paar Tage in Goal blicken ließ. Erstaunlicherweise wurde uns das Treffen gewährt.
    Der Mann war ein gemischtrassiger Südafrikaner. Als er eintraf, begann ich mit meinem Plädoyer, noch ehe er etwas sagen konnte. – Wir werden kämpfen!, sagte ich. – Wir werden alles tun, was von uns verlangt wird, wenn Sie uns nur nach Amerika schicken, sagte ich. – Wir haben so lange gewartet! Wir haben zwanzig Jahre gewartet und darauf gehofft, dass etwas Gutes geschehen wird! Können Sie sich das vorstellen? Nehmen Sie uns das nicht weg. Das dürfen Sie nicht. Wir werden alles, wirklich alles tun, sagte ich. Meine Begleiter blickten mich skeptisch an, und ich fürchtete, mehr Schaden anzurichten als Gutes zu bewirken. Ich war übermüdet und klang möglicherweise verzweifelt.
    Der Mann verließ den Raum, ohne ein Wort gesagt zu haben. Er ließ ein Blatt Papier zurück, auf dem eine Anweisung der IOM stand: Die Flüge sollten wieder aufgenommen werden, sobald die Flughäfen in den Vereinigten Staaten geöffnet wurden. In der Goal-Mythologie wurde meine Rede zum Auslöser für die Wiederaufnahme der Flüge. Man feierte mich tagelang, ganz gleich, wie oft ich bestritt, dafür verantwortlich zu sein.
    Am 19. September wurde die erste Liste ausgehängt. Von da an wurde jeden Tag eine Liste mit zwanzig Flüchtlingsnamen an das Fenster neben dem Fernseher gehängt, und die Betreffenden wurden am selben Nachmittag abgeholt und zum Flughafen gefahren. Am ersten Tag packten die Männer, deren Namen auf der List standen, ungläubig ihre Sachen und stiegen um halb drei in den Bus. Der Bus fuhr ab, und das war’s. Wir Übrigen konnten uns nicht erklären, wie einfach und schnell das Ganze auf einmal vonstattenging. Als die ersten drei Gruppen nicht zurückkamen, wuchs unsere Zuversicht, dass wir Goal tatsächlich endgültig verlassen würden, wenn wir es nur in einen der Nachmittagsbusse schafften.
    Nie war ich so froh gewesen, Sudanesen verschwinden zu sehen. Von Tag zu Tag waren weniger Menschen in Goal, zuerst dreihundert, dann zweihundertsechzig, dann zweihundertzwanzig. Am vierten Tag wurde ich in ein neues Zimmer verlegt, einen kleinen Raum mit einem einzelnen vergitterten Fenster hoch oben in der Wand. Ich hatte ein eigenes Bett, teilte mir aber den Raum mit vierzehn anderen. Jede Nacht, in der ich wusste, dass ich nicht am nächsten Tag abreisen würde, schlief ich gut und hörte die Flugzeuge in Nairobi starten.
    Am fünften Tag stand mein Name auf dem Blatt, das am Fenster klebte. Ich würde am nächsten Nachmittag den Bus besteigen. In jener Nacht lag ich im Bett und starrte auf die anderen jungen Männer im Raum, sie alle waren nur Schatten, nur wenige schliefen. Die Hälfte von ihnen sollte am nächsten Tag zusammen mit mir abfliegen. Die Stimmung war ganz anders als zwei Wochen zuvor. Soweit wir wussten, waren Sudanesen jetzt über die ganze Welt verteilt, gestrandet, umgeleitet, manche, die in ein bestimmtes Land gebracht werden sollten, waren jetzt auf unbegrenzte Zeit in einem anderen. Und wir würden am kommenden Tag mitten in das alles
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