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Weißes Gift im Nachtexpreß

Weißes Gift im Nachtexpreß

Titel: Weißes Gift im Nachtexpreß
Autoren: Stefan Wolf
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sie
wegkamen.
    Jetzt blies der Nachtwind von hinten.
Er schob sie geradezu.
    Die Jungs wußten: Herbert, der
Kampf-Bettler, behauste eine baufällige Gartenlaube an der Hochriegel-Straße.
Die Laube stand auf einem unbebauten Grundstück, das zunehmend verwilderte,
weil der Eigentümer in Südfrankreich lebte und nur noch selten kam.
Wildwuchernde Hecke wuchs auf allen vier Seiten. Auch andere Grundstücke der
Hochriegel-Straße waren unbebaut. Denn die Stadt endete ein Stück weiter vorn,
wo ein kleiner Güterbahnhof für Lärm und Gestank sorgte. Lagerhäuser hatten
sich dort ausgebreitet. Eine Gewerbe-Gegend. Zum Bewohnen nicht mehr geeignet.
    „Tante Elke“, sagte Klößchen und meinte
Frau Streiwitz, „hat mir als Geschenk einen Christstollen mitgebracht. Einen
Dresdner Christstollen. Mit Mandeln und Rosinen. Sie sagt, der schmecke auch,
wenn’s auf Ostern zugeht.“
    „Guten Appetit!“ meinte Karl.
    Tim drückte aufs Tempo. Beim
Güterbahnhof rollten sie durch eine Unterführung, in der Auto-Abgase die Luft
verdickten.
    Hochriegel-Straße.
    Sie führte in ein trübes Umland, wo Rieselfelder
sich ausdehnten, über denen jetzt die Nacht waberte. Lichtpeitschen standen nur
bis zum Schienen-Übergang. Dort knickte die Straße ab, hieß fortan Pleutroder
Landstraße, verlor sich in der Finsternis, führte aber trotzdem nach Pleutrode,
einem Dorf mit zwei Läden und einer Tankstelle.
    Tim äugte scharf links und zählte die
Grundstücke ab. Das dort, ja!
    Ein verfallener Zaun lehnte sich an die
verwilderte Hecke. Die Pforte hing nur noch an einer Angel. Im Lehmboden,
eisfrei, waren Fußstapfen festgefroren.
    Die Jungs stellten ihre Drahtesel an
den Zaun und drangen vor aufs dunkle Gelände.
    Jenseits der Hecke sah Tim den
Lichtschein. Er schimmerte hinter dem Fenster der Gartenlaube.
    „Wir haben Glück“, flüsterte der
TKKG-Häuptling. „Herbert hat noch dieselbe Adresse.“
    Sie pirschten näher. Klößchen stieß mit
dem Kopf an den Stamm eines Apfelbaums, fluchte und rieb sich die Stirn.
    Hier, im freien Gelände, sauste der
Wind, riß an Zweigen und heulte um die Ecken der Gartenlaube.
    Sie hatte zwei Fenster. Noch im Herbst
hatten Bretter gefehlt in den Wänden. Aber das war repariert worden, wie Tim
feststellte; Herbert hatte sein Winterquartier auf Vordermann gebracht.
    Beide Fenster waren innen mit Lumpen
verhangen. Aber ein Spalt gestattete Einblick.
    Tim staunte.
    Eine Kerze auf dem Boden war dick wie
ein Oberschenkel, rot und mit Zopfmuster überzogen. Eine Zierkerze. Gut
halbmeter-hoch und sicherlich 200 DM teuer.
    Geklaut! dachte Tim. Bestimmt bei einem
Einbruch.
    Die Kerze brannte, flackerte, weil der
Wind durch die Ritzen der Wände drang, und verbreitete ausreichend Licht. In
einer Ecke stapelten sich Zeitungen bis zur Nabelhöhe. Ein Altpapier-Sammler
hätte sich die Hände gerieben.
    Tim sah weiter zwei Feldbetten, Kisten
voller Krimskrams, einen Hocker mit verschiedenen Mänteln drauf und drei
Dutzend Wein- und Schnapsflaschen. Die meisten waren leer.
    Auf dem Gartentisch stand ein
Kofferradio, groß, metallisch, mit langer Antenne für Weltempfang.
    Aus dem toten Winkel, den Tim nicht
einsehen konnte, streckte sich eine Hand. Sie stellte das Radio an. Popmusik
plärrte los. Aber schon war die Nummer zu Ende, und ein blödelnder Diskjockey
zog ein paar Kalauer ab, bevor er mitteilte, wie spät es sei, und Nachtfrost
ankündigte, angeblich den letzten des Winters.
    Tim machte eine Kopfbewegung, und sie
gingen zur Tür.
    Abgeschlossen?
    Tim rechnete damit. Deshalb warf er
sich gleich wuchtig dagegen. Sie flog auf.
    Herbert, dem Kampf-Bettler, fiel die
Flasche aus der Hand. Er hatte gerade einen Schluck genommen. Der Blick war
schon glasig. Jetzt weitete Schreck die Augen.
    Herbert saß in einem nagelneuen
Ledersessel und hatte die Füße auf einen Hocker gelegt.
    „Hallo, Herbert“, sagte Tim. „Kommen
wir ungelegen?“

4. Herbert, der Kampf-Bettler
     
    Er mochte Ende Zwanzig sein, hatte
rotes Kraushaar und ein hageres Gesicht mit Warzen und Bartstoppeln. Im offenen
Mund blitzten — ungewöhnlich bei einem Penner — gesunde Zähne. Keine Lücke.
    „Was wollt ihr?“ Seine
Blechbüchsen-Stimme schepperte. „Gute Frage.“ Tim hörte, wie Karl oder Klößchen
die Tür schloß. „Natürlich kommen wir nicht ohne Grund. Wie ich sehe, wohnt
jetzt ein Kumpel bei dir. Damals war hier nämlich nur ein Bett. Zahlt Otto Pawelke
dir Miete? Oder hast du ihn aus Barmherzigkeit
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