Weil Ich Euch Liebte
nicht tragen. Ich will sie behalten.«
»Na gut«, sagte ich besänftigend.
Damit war sie anscheinend zufrieden. Sie blieb noch einen Augenblick stehen, dann sagte sie: »Kannst du mich jetzt bringen?«
»Bist du sicher, dass du da hin willst?«, fragte ich. »Bist du schon so weit?«
Kelly nickte. »Ich will nicht die ganze Zeit mit dir zu Hause rumsitzen.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ist nicht bös gemeint.«
»Ich hol nur meine Jacke.«
Ich ging hinunter und holte sie aus der Garderobe. »Hast du alles?«
»Ja.«
»Schlafanzug?«
»Ja.«
»Zahnbürste?«
»Ja.«
»Hausschuhe?«
»Ja.«
»Hoppy?« Den Stoffhasen, den sie noch immer mit ins Bett nahm.
»Daaad. Ich hab alles, was ich brauche. Wenn du mit Mom weggefahren bist, musste sie dir immer sagen, was du mitnehmen sollst. Und das ist doch nicht das erste Mal, dass ich woanders übernachte.«
Da hatte sie recht. Es war nur das erste Mal, dass sie über Nacht weg war, seit ihre Mutter nicht mehr bei uns war.
Es würde ihr guttun, aus dem Haus zu kommen, bei Freunden zu sein. Meine Gesellschaft konnte niemandem zuträglich sein.
Ich rang mir ein Lächeln ab. »Deine Mutter sagte immer, hast du dies eingesteckt, hast du das eingesteckt, und ich sagte, ja klar, ich bin doch nicht ganz vertrottelt. Und die Hälfte von den Sachen, die sie aufzählte, hatte ich natürlich vergessen, und dann musste ich mich ins Schlafzimmer schleichen und sie holen. Einmal hatte ich sogar vergessen, Unterwäsche zum Wechseln einzupacken. Ganz schön blöd, was?«
Ich dachte, sie würde vielleicht zurücklächeln, aber keine Chance. Ihre Mundwinkel waren in den vergangenen sechzehn Tagen nicht oft nach oben gegangen. Manchmal, wenn wir aneinandergekuschelt auf der Couch saßen, lachte sie über etwas Lustiges im Fernsehen. Doch wenn sie sich dabei ertappte, hörte sie gleich wieder auf, so als hätte sie kein Recht mehr zu lachen, als gäbe es für sie nichts Lustiges mehr. Es war, als schämte sie sich, dass es überhaupt noch etwas gab, das sie fröhlich stimmen konnte.
»Hast du dein Telefon?«, fragte ich, als wir schon im Wagen saßen. Ich hatte ihr nach dem Tod ihrer Mutter ein Handy gekauft, damit sie mich jederzeit erreichen konnte. Und ich sie natürlich auch. Was für ein Luxus für ein Kind ihres Alters, dachte ich, als ich es kaufte, stellte jedoch bald fest, dass sie keineswegs das einzige war. Immerhin lebten wir in Connecticut, wo manche Kinder mit acht schon ihren eigenen Psychiater hatten, von einem Telefon ganz zu schweigen. Und ein Mobiltelefon war heutzutage ja längst nicht mehr nur ein Telefon. Kelly lud Lieder darauf, fotografierte damit und filmte sogar kurze Videos. Einiges davon konnte mein Handy bestimmt auch, doch ich benutzte es hauptsächlich zum Telefonieren und dazu, auf Baustellen zu fotografieren.
»Hab ich«, sagte sie, ohne mich anzusehen.
»Ich will ja nur sichergehen«, sagte ich. »Wenn etwas ist, wenn du heimkommen willst, dann ruf mich an. Egal, wie spät es ist. Ich komm auch um drei Uhr morgens, wenn irgendwas –«
»Ich will auf eine andere Schule«, sagte Kelly und sah mich erwartungsvoll an.
»Was?«
»Ich hasse meine Schule. Ich will woandershin.«
»Warum?«
»Da nerven alle.«
»Geht’s auch ein bisschen genauer, Kleines?«
»Die sind alle gemein.«
»Was meinst du mit ›alle‹? Emily Slocum mag dich. Sonst hätte sie dich nicht eingeladen, bei ihr zu übernachten.«
»Alle anderen hassen mich.«
»Jetzt erzähl mir ganz genau, was passiert ist.«
Sie schluckte, sah zu Boden. »Sie nennen mich –«
»Wie, mein Schatz. Wie nennen sie dich?«
»Säuferkind.«
Ich spürte, wie mein Kiefer sich anspannte.
»Wegen Mom und dem Unfall, du weißt schon.«
»Deine Mutter war keine – sie hat nicht getrunken. Sie war keine Säuferin.«
»War sie doch«, sagte Kelly. »Deshalb ist sie auch tot. Und deshalb hat sie auch andere umgebracht. Das sagen alle.«
Wieder biss ich die Zähne zusammen. Warum sollten sie das auch nicht sagen? Sie hatten die Schlagzeilen gelesen, die Nachrichten gesehen. Alkoholfahrt einer Mutter. Drei Tote in Milford.
»Wer nennt dich so?«
»Ist doch egal. Wenn ich es dir sage, gehst du zum Direktor, und der staucht sie zusammen, und dann müssen alle darüber reden, und ich würde am liebsten ganz woanders hingehen. In eine Schule, in der keiner war, den Mom umgebracht hat.«
Die beiden Menschen in dem Wagen, der in Sheilas Auto gefahren war, waren Connor Wilkinson,
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