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Wasserwelten

Wasserwelten

Titel: Wasserwelten
Autoren: Siegfried Lenz
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doch sie waren kaum auf der Höhe der bewaldeten Halbinsel, als Eva ihn auch schon bat, zurückzufahren – vielleicht, weil es fast dunkel geworden war. Bekümmert ging er auf Gegenkurs, er fuhr näher an den Strand heran und drosselte den Motor, nur ein einziger Gedanke beherrschte ihn: die Zeit zu dehnen.
    Und plötzlich saßen sie fest, der Motor spuckte einmal und hechelte und schwieg, und das Boot glitt nicht aus, sondern wurde festgehalten von elastischen Fesseln. Um Himmels willen, sagte die Nichtschwimmerin Eva Eicken, was ist passiert, worauf Klaas Matthiesen ihr beibrachte, daß sie in ein Reusensystem geraten waren und daß die Messingschraube hoffnungslos von Netzwerk umschlossen war. Beim ersten frühen Licht, erklärte er, werde er hinabtauchen und die Schraube mit seinem Bordmesser freischneiden.
    Da ihnen nichts anderes übrigblieb, richteten sie sich aufs Warten ein, die Kühle überredete sie, näher aneinanderheranzurücken, vielleicht noch ein bißchen näher, und bald zeigte es sich, daß man den langsamen Gang der Zeit völlig vergißt, wenn man sich der Wohltat sprechender Berührungen überläßt. Die erste Helligkeit kam fast zu früh, doch versprochen ist versprochen: Klaas Matthiesen ließ sich übers Heck ins Wasser, schnitt die Schraube aus der Fessel des Netzes frei und brachte, wie zum Beweis, das Endstück der Reuse an Bord. Diesem bißchen, sagte er, haben wir alles zu verdanken. Er warf es in die See und ließ den Motor an. Daß es seine eigene Reuse war, sagte er nicht; das brauchte auch nicht gesagt zu werden.
    Was du hier am Strand erfahren willst, mußt du dir erfinden, denn magst du auch noch soviel entdecken und sammeln: über seine Herkunft schweigt jedes Ding. Wer den Ast brach, den die Wellen an Land warfen, kann keiner ermitteln, doch du fühlst dich aufgefordert, dem weißen, gepökelten Holz eine Reise zu entwerfen, zu denken, welche Strömungen es entführten, wo es sich verfing und wie es zu der Manschette aus unentwirrbaren Halmen gekommen ist. Wie glatt, wie poliert sich der Ast anfühlt. Und wieviel Zeit Halme und Seegras brauchten, um sich so am Holz zu befestigen.
    Zeit: hier am Strand geht dir gleich auf, daß ein Tag wie ein Tropfen ist, ein Tropfen aus diesem unendlichen Wasser. Gelassener als das Meer arbeitet keiner. Ob es aufbaut oder verbraucht, ob es rosten oder versteinern läßt, ob es anschwemmt oder mit heftigen Schlägen wegwäscht: ihm gelingt alles, denn auf seiner Seite ist der Sieger Zeit.
    Dicht nebeneinander liegen zwei ebenmäßig aufgebuckelte Steine – es ist schwer zu glauben, daß die beiden einmal lebten, schwollen, zuckten, daß sie sich ihre Nahrung holten aus planktonreichen Strömungen. Damit sie für immer Seeigel bleiben, machte das Meer sie zu Stein. Um die zauberische Form der Wurzel aufzuheben, bepflasterte es sie mit Pocken, beschwerte und bewahrte sie so vor zu früher Fäulnis. Und die Schalen der geknackten Austern, gewachsen in widerstandsfähigen Terrassen, erscheinen dir wie ein Inbegriff der Unzerstörbarkeit; so sieht aus, was für die Dauer konzipiert ist. Im Glanz des Perlmutts singt sich das Meer sein eigenes Loblied.
    Fragen, immer zahlreicher werden die Fragen angesichts der Dinge, die am Strand zu finden sind, und oft genug stutzt man und schüttelt den Kopf. Was hat diese Fahrradkette hier zu suchen, die, von sanften Wellen beleckt, in mutwilligen Buchten verschlungen, still vor sich hin rostet? Ein submariner Radfahrer, der genußvoll durch die Stille der Tangwälder gondelt und Dorsch und Makrele zunickt, läßt sich beim besten Willen nicht vorstellen, wohl aber ein Olaf Friis, dem bei verbissener Strandfahrt die Kette riß und der sie mit berechtigter Wut einfach ins Wasser schmiß. Man kann ihr auch eine andere Geschichte erfinden, eindeutig aber bleibt, daß der strafende Rost schon seine Wirkung getan hat: nie mehr wird diese Kette auf einem Zahnrad liegen und sich einen Rocksaum, ein Hosenbein fangen.
    Und stutzen wirst du nicht weniger beim Anblick dieser eigentümlich gekrüllten Blätter und des trockenenSchilfhalms, denn weit und breit ist kein Baum, ist kein Schilfgürtel zu sehen. Klar, sie stammen von einer anderen Küste, und ebenso ersichtlich, daß sie sich selbst zum Segel machten und dem Wind anboten, der sie, da sie keine Fracht zu tragen hatten, leicht über das Wasser trug, ohne Bugwelle, ohne Kielwasser. Segel: sie sind der Bindestrich zwischen den Küsten, ein Kunstwerk aus Tampen und
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