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Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht
Autoren: Dieter Moor
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Fahrzeugseite steht in blauen Buchstaben: «Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser, FDP».
    «Achtung, der Eingemauerte», ruft einer der Teddy-Brüder. «Die Spaßpartei kontrolliert, ob wir mehr Spaß haben, als fürs Vertrauen
     besser ist!»
    Vom Eingemauerten haben wir schon einiges gehört. Er muss ein Mann sein, dessen größtes Glück es wäre, wenn er in einer Modelleisenbahnanlage
     leben dürfte. In
seiner
von
ihm
geplanten, gebauten, gestalteten und betriebenen Modelleisenbahnanlage. Wo jedes Ding den von
ihm
bestimmten Platz hat und dort unverrückbar von
ihm
festgeklebt bleibt. Wo nichts Unvorhergesehenes passiert. Wo die von
ihm
geölten Weichen klacken, die von
ihm
gesteuerten Züge auf von
ihm
vorbestimmten Strecken rollen, wo die Bahnschranken immer zuverlässig nach unten klicken, wenn |270| die Lok über den Kontaktschalter fährt. Nicht weil die Maßstab-H-null-Plastikmenschen Gefahr liefen, vom Zug überrollt zu
     werden, die können ja nicht laufen, sind ja schön angeleimt von
ihm
. Sondern weil eine Bahnschranke immer ordentlich zuzugehen hat, wenn sich ein schienengebundenes Fahrzeug nähert. In seiner
     Modelleisenbahnlandschaft stünden an den Straßenkreuzungen Ampeln, die genauso sinnlos vor den auf die Pappstraße gepappten
     Miniaturautos von Rot auf Grün auf Gelb auf Rot auf Grün auf Gelb schalten würden.
    Dann würde er am liebsten auf den größten Berg seiner Anlage klettern (40   cm hoch!) und über sein Plastikland, seine Hyper-Schweiz blicken, und sein Herz würde sich öffnen, und überwältigendes Glück
     würde ihn erschauern lassen, denn er wüsste: Nichts kann passieren, von dem er nicht will, dass es passiert. Alles in Ordnung,
     alles im Griff, herrlich.
    Doch das Wunderbarste an diesem Leben in der eigenen Modelleisenbahnanlage: Es wäre die ultimative Lösung des biologisch bedingten
     Problems der, wie er sie nennt, unkontrollierten Phasen. Der Mensch muss ja essen, muss trinken, muss, was er sich einverleibt
     hat, auch wieder ausscheiden. Und der Mensch muss schlafen. In diesen Phasen kann alles Mögliche unkontrolliert passieren.
     Man kann nicht Suppe löffeln und dabei gleichzeitig aufpassen, dass man sich nicht bekleckert,
und
überwachen, ob ein Unbefugter vor der Tür herumschleicht. Auch wenn man gerade auf der Klosettbrille sitzt und aus sich herauspresst,
     was wieder rausmuss, ist die Sicht auf die Außenwelt durch das schmale Klofenster extrem eingeschränkt. Ganz zu schweigen
     vom größten Feind des Aufpassers, des Kontrolleurs, des Wachenden: der Nichtwachzustand, der Schlaf. Stundenlanger Kontrollverlust,
     jede einzelne Nacht. Was für eine Bedrohung!
    Im Modelleisenbahnanlageleben müsste er nur den Stecker |271| ziehen, und die Welt würde augenblicklich in Schockstarre verfallen. Die Räder der Lokomotiven hielten an, die Ampeln würden
     erlöschen, die Schranken pausieren, nichts würde mehr passieren. Und daher auch nichts Unvorhersehbares. Die Zeit bliebe stehen.
     Auszeit für ihn.
    Und wenn er nach der Verrichtung biologischer Unabänderlichkeiten die glänzenden Stifte des Steckers wieder in die dunklen
     Höhlen der Dose versenkte, würde die Welt unverändert in genau dem Zustand wieder zum Leben erwachen, in dem sie sich bei
     ihrer Erstarrung befunden hat. Als hätte es die unkontrollierte Phase gar nicht gegeben.
    Leider, leider lebt er nicht in seiner Modelleisenbahnanlage, sondern in Amerika. Mit Menschen, die er einfach nicht geleimt
     kriegt. Die Dinge tun, auf die er keinen Einfluss hat. Denen jederzeit alles Mögliche einfallen kann. Und die nicht davor
     zurückschrecken würden, es auch in die Tat umzusetzen.
    Also muss er sich schützen.
    Er hat die Welt in zwei Zonen geteilt: die Zone «unter Kontrolle» und die Zone «noch unter Kontrolle zu bringen». Unter Kontrolle:
     sein Haus, sein Grundstück, sein Auto, seine Frau. Noch unter Kontrolle zu bringen: der Rest. Diese beiden Zonen sind streng
     voneinander zu trennen. Um das Grundstück läuft lückenlos eine massive Trennmauer aus Feldsteinen. Hoch genug, dass auch der
     längste Lulatsch der Welt nicht darüberblicken kann, nicht einmal mit Plateausohlen. Zweihundertdreißig Zentimeter Urgestein
     und Beton.
    Die einzige Schwachstelle der Mauer: das Tor. Massive Holzbohlen, umrahmt von schwarzgestrichenem Stahl. Die Eisenbandscharniere,
     mit genieteten Sicherungssplinten ausgestattet, sind einzementiert in flankierende Säulen, 80 mal 80   Zentimeter
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