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Wahr

Wahr

Titel: Wahr
Autoren: Riikka Pulkkinen
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Maria wagten nichts zu sagen, und Eleonoora hatte kein Bedürfnis nach Worten. Maria griff wieder ihre Hand.
    Irgendwann fragte Anna: »Und jetzt?«
    »Jetzt spreche ich mit meinem Vater«, antwortete Eleo­noora.

26.
    ICH FAHRE MIT der Straßenbahn durch die Stadt. Ich habe Großmutter genau angesehen, ehe wir den Deckel auf den Sarg legten. Sie lag ruhig und friedlich auf dem weißen Laken. Ich musste weinen.
    Gestern schaute meine Mutter mir nicht in die Augen. Als sie und Papa mich mit dem Auto abgeholt haben nicht, und als wir nach all dem Schweren im Garten Tee tranken auch nicht. Ganz langsam wurde es Abend. Rosa, malven- und pfirsichfarben.
    Meine Eltern umarmten sich; ich war kurz neidisch auf die schlichte Selbstverständlichkeit, mit der sie zueinander gehören. Auch Maria legte ihre Arme um unsere Mutter, die wiederum ihre Hand zerstreut über Marias Rücken wandern ließ.
    Ich versuchte nicht mal sie zu umarmen. Sie sah mich den ganzen Abend nicht an, gab mir das Gefühl, etwas kaputt gemacht zu haben, indem ich Mitwisserin war, Erfinderin, Überbringerin der Botschaft. Dennoch übernachtete ich bei meinen Eltern, bezog mein altes Bett mit steifer Bettwäsche, perfekt gebügelt von meiner Mutter.
    Erst nachts, als ich nach schlaflosen Stunden ins Wohnzimmer geschlichen war und meine Mutter, die auf dem Sofa lag, gefragt hatte, ob sie weinte – erst da sah sie mich an. Ich blieb in der Tür stehen, wagte mich nicht näher.
    »Weinst du wegen Großmutters Tod?«
    Sie wandte mir langsam ihr Gesicht zu, und ich sah, dass ihre Trauer für mich uneinholbar bleiben würde. »Ich weine wegen Mamas Tod.«
    Ich ging zu ihr und umarmte sie. Sie stieß mich nicht zurück. Ich tröstete sie, wie man ein Kind tröstet, fand die Worte und die Kraft dafür, meine Arme lagen sicher auf ihrem Rücken.
    Dann wollte sie mit Großvater sprechen. Ich hörte das Gespräch nicht und wollte es auch gar nicht hören. Was zwischen Kindern und Eltern passiert, die schmerzerfüllten Anklagen und gestammelten Entschuldigungen, kann niemand anders verstehen. Meine Aufgabe ist es, da zu sein. Mit der Straßenbahn durch die Stadt zu fahren und diesmal keine fremde Geschichte zu erspinnen; ich habe anderes zu erzählen. Eeva watete ins Wasser, wollte schwimmen und schwamm, so, als wäre sie schon immer ein Fisch gewesen. Großmutter liegt im Sarg. Und meine Mutter spricht mit Großvater. Ich fahre durch die Stadt, und dann steige ich aus.
    Matias ist zu Hause. Er will zum Tennis, sein Schläger liegt schon im Flur, die Tasche ist gepackt. Er hat eine Scheibe Brot gegessen und dabei Zeitung gelesen, ich sehe die Krümel auf den Kulturseiten.
    »Na, du«, sagt er, kommt auf mich zu und umarmt mich.
    Ich lasse ihn ganz nah heran, und er öffnet mich, Schicht für Schicht. Er öffnet mich neu, obwohl ich geglaubt habe, mich für immer verschlossen zu haben.
    Es ist schön, meine Geliebte, es ist schön mit dir. Es ist schön.
    Jetzt kann ich erzählen, was ich bisher für mich behalten habe. Alles beginnt damit, dass ein Mann zur Tür hinausgeht. Alles beginnt damit, dass ein Mädchen fragt, ob wir uns wiedersehen, und ich Ja sage, gleich morgen, obwohl ich weiß, dass es eine Lüge ist. Alles beginnt damit, dass ich elf Tage auf dem Flur liege. Ich beginne flüsternd, dann werden die Sätze immer leichter. Ich hätte nicht gedacht, dass ich es tun würde, doch jetzt erzähle ich es ihm.

27.
    SIE GING MIT energischen Schritten durch den Park auf ihn zu. Martti sah schon von weitem, dass sie wütend war, vielleicht war es sogar Hass. Sie hatte telefonisch um dieses Treffen gebeten, am liebsten draußen, hatte sie gesagt. Ihm war sofort klar, worum es gehen würde, trotzdem wurde er nervös, als er sie sah. Das Wetter passte nicht zu Annas Gesichtsausdruck: Es war freundlich und windstill, die Sonne schien so hell, als wollte sie jeden einzelnen Zug in Annas Gesicht herausarbeiten.
    Er fragte, ob sie in ein Café wollte, auf eine Zimtschnecke oder ein Eis oder ob ihr Eis schon langweilig wurde, sie hatten sich so oft zum Eisessen getroffen. Er hörte sich selbst reden, schwieg schließlich, Annas Mimik war wie eine Wand.
    Sie hatte ihre Wut ganz neu entdeckt. Und mit diesem Gefühl war sie kein Mädchen mehr. Ihre Wut war uralt, hatte Jahrhunderte verborgen gelegen. Bei Demonstrationen und auf Theaterbühnen durfte sie sich maskiert zeigen, aber jetzt zeigte sie sich ganz ohne Vorwand, strömte frei in ihre Gesten. Dies war nicht mehr der
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