Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
nicht, dich über mich lustig zu machen, Augusta.« Augusta blinzelte und erinnerte sich lieber an die praktische Hilfe, die Annabella ihr in den ersten Jahren immer zuteil hatte werden lassen… an die Freundlichkeit und Großzügigkeit, mit der sie Augustas Tochter Medora behandelt hatte, auch wenn diese Freundlichkeit das Messer gewesen war, daß sie in Augustas Herz umdrehte… an die liebevolle Art, die Annabella ihr gegenüber während des einen Jahres ihrer Ehe gezeigt hatte.
    Damals war zwischen Annabella und Augusta ein tiefes selbstverständliches Vertrauen gewachsen, das kaum einer verstehen konnte.
    Endlich streckte Augusta zögernd eine Hand aus und legte sie an Annabellas Gesicht. »Bell«, flüsterte sie, »Bell.« Einen Augenblick lang rührte sich Annabella nicht, und die Zeit schien zwischen den beiden zu gefrieren. Dann sprang sie auf. »Gib es zu!« stieß sie hervor, und jetzt sah Augusta reinen Haß aus ihren Augen leuchten - Haß, der sich über Jahrzehnte hinweg aufgestaut hatte.
    »Du hast ihn dazu gebracht, mich zu verabscheuen, du hast meine Ehe zerstört, bevor sie überhaupt begonnen hatte! Die ganze Zeit über hast du so getan, als seist du meine Freundin, während du unter meinem Dach mein Vertrauen mißbraucht hast!« Sie wandte sich jäh ab und rang um Atem. »Ich kann nicht mehr, Reverend«, sagte sie schließlich. »Sprechen Sie mit ihr.« Annabella trat ans Fenster und wandte Augusta ihren sehr geraden, abweisenden Rücken zu.
    »Mrs. Leigh«, begann Robertson und ließ seine tiefe Stimme grollend ertönen, als predige er auf der Kanzel, »warum blieben Sie bei Ihrem Bruder, nachdem Lady Byron zu ihren Eltern zurückgekehrt war?«
    »Auf Lady Byrons Bitte«, erwiderte Augusta. In ihrer Schläfe begann eine kleine Ader schmerzhaft zu pochen. »Sie… wir dachten, mein Bruder könnte wahnsinnig sein, und sie bat mich, sie täglich über die Ergebnisse der ärztlichen Untersuchungen zu unterrichten.«
    Robertson holte tief Luft. »Aber nachdem sich gezeigt hatte, daß Ihr Bruder nicht wahnsinnig war, sondern nur ein unmoralisches Ungeheuer, das seiner armen Frau das Leben zur Hölle gemacht hatte - warum blieben Sie danach dennoch bei ihm?«
    Seine Stimme war nur mehr ein drohendes Flüstern. »Zu diesem Zeitpunkt bat Lady Byron Sie bestimmt nicht mehr um Ihre Anwesenheit in jenem Haus der Sünde. Wäre es nicht Ihre Pflicht gewesen, Ihre hilflose Schwägerin offen zu unterstützen? Hatten Sie nicht eine eigene Familie, um die Sie sich kümmern mußten? Warum also blieben Sie?«
    Augusta fühlte sich mit einem Mal unendlich müde. Ihr kam diese ganze Szene wie ein längst abgespieltes Schauspiel vor, bis zum Überdruß wiederholt. »Aus Liebe«, antwortete sie. »Er brauchte mich, und er war mein Bruder.«
    Annabella drehte sich abrupt um und verließ den Raum, ohne Augusta noch einmal angesehen zu haben. Sie schlug die Tür hinter sich zu. Der Reverend schaute ihr eine Weile irritiert nach, ehe er fortfuhr: »Es wäre gut, wenn Sie sich dessen etwas früher erinnert hätten, Mrs. Leigh. In Lady Byrons Augen sind Sie eine unwürdige Sünderin, die mit halben Geständnissen ihr Vergehen nur noch schlimmer macht, eine schlechte Mutter für Ihre armen Töchter Georgiana und Medora, und… wohin gehen Sie?«
    Augusta hatte sich ebenfalls erhoben. Sie setzte ihren Hut wieder auf und streifte die Handschuhe über, während sie mit etwas zitternder, aber dennoch ruhiger Stimme erwiderte: »Ich sehe keinen Sinn darin, dieses Gespräch fortzusetzen, da Lady Byron uns verlassen hat. Ich kann nur wiederholen, daß ich ihr Vertrauen niemals mißbraucht habe, daß ich immer ihre Freundin war und sein werde. Ihnen jedoch, Reverend, bin ich keine Rechenschaft schuldig. Guten Tag.«
    Sie hörte noch, wie er hinter ihr herrief: »Sie sind Gott Rechenschaft schuldig, Mrs. Leigh!« Dann verschwamm ihr Blick.
    Irgendwie fand sie aus dem Hotel heraus. Das Salz der Tränen biß auf ihrer Haut. Aus irgendeinem Grund war sie wieder achtzehn, ein Mädchen im Haus von Lord Carlisle, das ein paar sentimentale Tränen über ihre Romanze mit Cousin George Leigh vergoß, und über den Flegel von Bruder, der sich auf so herzlose Weise darüber lustig machte. Plötzlich hörte sie seine Stimme. »Augusta? Aber Gänschen, warum weinst du?«
    Sie blieb stehen, starrte in den Himmel über Brighton mit sich verdunkelnden Wolken, den Möwen, die schreiend ihre Kreise zogen. Eine von ihnen sah genauso aus wie Annabella.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher