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Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Titel: Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
Autoren: Clough Patricia
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Gegenteil. Aber es herrschte ein gesunder Respekt vor der Altersweisheit, vor den Erfahrungen, die den körperlichen Niedergang zumindest teilweise kompensierten. Doch das war zu Zeiten, als die meisten Menschen nicht einmal fünfzig Jahre alt wurden. Wer sechzig wurde, konnte sich schon glücklich schätzen. Heute sieht es ganz anders aus. Heute hat sich durch die Industrialisierung, den technischen Fortschritt und die erhöhte Lebenserwartung die Situation stark gewandelt. Das Alter ist tatsächlich eine der größten Errungenschaften der modernen Gesellschaft, und dennoch wird es uns bis heute als Horrorbild vorgeführt. Politiker erschaffen Szenarien, in denen alte, hilflose Wesen durch die Flure überfüllter Heime schlurfen. Sie beschwören eine Masse alter Menschen herauf, die dement und bettlägrig und inkontinent sind und von einer schrumpfenden Anzahl junger, nicht gerade begeisterter Menschen unterstützt werden. Kein Wunder, dass wir Angst haben. Doch das gängige Bild ist ein Zerrbild der Wirklichkeit.
    Selbstverständlich stellt die Überalterung der Bevölkerung eine große Herausforderung dar, die wir nicht ignorieren dürfen. Doch was in den Diskussionen meist verschwiegen wird, ist, dass in Deutschland 92,7 Prozent der über Fünfundsechzigjährigen eben nicht an Alzheimer leiden, dass 96 Prozent von ihnen nicht in Altersheimen leben. Auch dass anderthalb Millionen zu Hause betreut werden, gehört hierher. Und während der Anteil der Alten an der Bevölkerung weiter steigen wird, und ihre Gebrechen, einschließlich der Demenz, eine immer größere Herausforderung darstellen werden, gibt es doch Anzeichen, dass sie in der Mehrheit lange gesund bleiben und in der Lage sind, bis ins hohe Alter hinein ein produktives Leben zu führen. Die Gesellschaft muss es nur zulassen.
    Die alten Vorurteile sind tief verwurzelt. Sie verstellen uns den Blick auf die Herausforderung und verhindern, dass wir Lösungen finden. Zwei führende amerikanische Sozialpsychologen, die Professoren Kenneth J. und Mary Gergen, bezeichnen eine solche Situation als Defizitdiskurs. Sie meinen damit, dass Menschen eine bestimmte Situation vorschnell als »Problem« bezeichnen, obwohl sie das an sich gar nicht sein muss, und ihr schon aufgrund dieser Bezeichnung kaum mehr etwas Postives abgewinnen können. Die Gergens sind überzeugt davon, dass die negative Sicht auf das Alter ein kulturelles Konstrukt ist, das aufgehoben werden kann. Vielleicht sind sie ein wenig zu optimistisch, schließlich ist die Aversion psychologisch tief verwurzelt. Andererseits sind die Vorstellungen über die Minderwertigkeit der Frauen, die tausende von Jahren vorgeherrscht haben, mit der feministischen Revolution bei uns im Westen mindestens zum Teil fortgefegt worden, woran man erkennen kann, dass Einstellungen, die wir für unumstößlich gehalten haben, nicht immer in Stein gemeißelt sind. Statt über die alternde Bevölkerung zu jammern, können wir auf der anderen Seite auch sagen, dass die Menschen immer länger jung bleiben.
    Ich habe es als gutes Omen verstanden, dass die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau Schröder, just zu dem Zeitpunkt, als ich begann dieses Buch zu schreiben, eine Kampagne ins Leben rief, um das Bild der alten Menschen in unserer Gesellschaft zu verändern. »Noch immer wird das Alter überwiegend mit Krankheit und Tod assoziiert«, erklärte die Ministerin, »dabei erleben heute viele Menschen den Lebensabschnitt zwischen fünfundsechzig und fünfundachtzig Jahren aktiv und gesund. Ich möchte verhindern, dass ältere Menschen ihre Fähigkeiten und Chancen nicht ergreifen, weil ihnen keine entsprechenden Möglichkeiten geboten werden … Wir brauchen ein neues Bild vom Alter, das die Stärken älterer Menschen betont und dazu beiträgt, dass sie ihren Beitrag in Wirtschaft und Gesellschaft leisten können.« Zur Kampagne gehörten verschiedene Tagungen und ein Foto- und Videowettbewerb mit dem Thema: Was heißt schon alt?
    Ein neues Bild vom Alter ist dringend nötig. Kaum ein Monat vergeht, in dem uns nicht eine neue Studie präsentiert wird, die mit den überkommenen Vorstellungen aufräumt. Allein die neuen Veröffentlichungen, die zu dem Thema erschienen sind, während ich für dieses Buch recherchierte, waren kaum zu bewältigen. Hinter den
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